Erdoğan zieht die Terroristen-Karte

Studierende in Istanbul haben erneut für die Autonomie der Universitäten demonstriert. Der Präsident sieht terroristische Gruppen am Werk und lässt den Protest niederschlagen

Studis gegen Staatsmacht: Protest am Mittwoch in Istanbul Foto: Omer Kuscu/ap

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Der Streit über die Ernennung eines Hochschulrektors in Istanbul spitzt sich zu: Nach einer Demonstration am Dienstagabend bezeichnete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die protestierenden StudentInnen am Mittwoch als „Terroristen“ bezeichnet. Gegen weitere Proteste werde mit aller Härte vorgegangen, drohte er. „Ich akzeptiere nicht, dass diese jungen Leute, die Mitglieder terroristischer Gruppen sind, die nationalen und moralischen Werte unseres Landes teilen.“

Am Dienstag war es zu regelrechten Jagden auf Studierende im Stadtteil Kadıköy gekommen. Zunächst verhinderte die Polizei mit einem Massenaufgebot eine geplante Versammlung. Alles war abgesperrt wie eine Festung, lange bevor die Versammlung beginnen sollte. Mehrere Parlamentsabgeordnete der Oppositionsparteien CHP und HDP waren vor Ort, konnten die Polizei aber nicht überzeugen, die Protestierenden ihre Presseerklärungen verlesen zu lassen.

Die StudentInnen wichen daraufhin in das Straßengewirr der Altstadt von Kadıköy aus, wo es zu wilden Hetzjagden kam. Greiftrupps der Polizei setzten Schlagstöcke, Reizgas und Gummigeschosse ein. Wie schon am Vortag kam es zu über hundert Festnahmen. Am Mittwoch befanden sich noch 29 Personen in Gewahrsam, der Rest war wieder auf freiem Fuß.

Seit Anfang des Jahres protestieren StudentInnen und die AkademikerInnen der renommierten Istanbuler Bosporus-Universität gegen einen neuen Rektor, der ihnen von Erdoğan aufgedrückt worden ist. Mitglieder der Universität sehen in der Wahl Melih Bulus, der ein hoher Parteimann der AKP ist, einen Angriff auf die Autonomie der Universität. Die Bosporus-Uni war bislang eine liberale und demokratische Oase in der zunehmend autoritären und islamistischen Türkei. Fast alle anderen staatlichen Universitäten hat die Regierung bereits fest im Griff.

Seitdem im Sommer 2018 ein Präsidialsystem in Kraft getreten ist, kann Erdoğan an jeder staatlichen Universität den Rektor ernennen. Zwar hatte der Präsident auch vor der Einführung des Präsidialsystems Einfluss auf die Hochschulleitungen, er musste aber eine Person aus einer Vorschlagsliste der Uni auswählen.

Viele ProfessorInnen beklagen nicht nur, dass die Universitäten ideologisch an der AKP ausgerichtet werden, sondern dass auch die Qualitätsstandards von Forschung und Lehre nachgelassen haben. Viele der ernannten Rektoren hätten nie im Ausland publiziert und seien von der weltweiten akademischen Debatte abgekoppelt.

ProfessorInnen beklagen, dass die Qualitätsstandards von Forschung und Lehre nachlassen

Die Proteste in Istanbul könnten zu einem neuen Kristallisationspunkt des Widerstands gegen die Regierung Erdoğan werden. In den sozialen Medien wird immer intensiver diskutiert, wie man die StudentInnen unterstützen kann. Die Bosporus-Universität hat eine aktive Alumni-Community, die durchaus Einfluss in der Stadt hat.

Die Szenen am Dienstag erinnerten an die Gezi-Proteste vor knapp acht Jahren rund um den Taksimplatz in Istanbul. AnwohnerInnen in Kadıköy, einem traditionell säkularen und regierungskritischen Stadtteil, öffneten am Dienstag ihre Häuser und boten fliehenden StudentInnen Unterschlupf. Erstmals seit Jahren protestierten AnwohnerInnen wieder um 21 Uhr, indem sie auf dem Balkon auf Kochtöpfe schlugen und ihrer Solidarität Ausdruck verliehen.

Erdoğan betonte am Mittwoch, dass er Proteste wie 2013 nicht dulden werde. „Dieses Land wird kein Land sein, das von Terroristen dominiert wird“, sagte er. „Dieses Land wird nicht wieder Zwischenfälle erleben wie die Gezi-Vorfälle auf dem Taksim.“