Uni-Proteste in der Türkei: Club der „Terroristen“
Studierende der Istanbuler Boğaziçi-Universität wehren sich gegen die Ernennung eines AKP-nahen Rektors. Auch mit sozialen Medien wie Clubhouse.
Bereits seit Anfang Januar wird an der renommierten Istanbuler Boğaziçi-Universität gegen die Ernennung eines AKP-nahen Rektors protestiert. Im Unterschied zu vorherigen Rektor*innen erfolgte die Ernennung Melih Bulus durch Präsident Erdoğan. Nennenswerte Proteste sind in der Türkei in den letzten Jahren seltener geworden. Der jetzt nicht abreißende Widerstand findet nicht nur auf dem Campus, in Istanbul und anderen Städten, sondern auch in den sozialen Medien statt – eine besondere Rolle kommt dabei dem gehypten Netzwerk Clubhouse zu.
In Zeiten von Sprachnachrichten und der schier nicht endenden wollenden Anzahl an Podcasts ist das Prinzip der Audio-App naheliegend: User*innen verabreden sich in Räumen und tauschen sich aus. Sprechen darf, wer sich meldet und von Moderator*innen auf die Bühne geholt wird. Statt der geschlossenen Kneipe noch kurz ins Clubhouse? Zwischen Lockdown und der tausendsten Videokonferenz ist die App eigentlich ein sozialer Zeitvertreib.
Die rasant wachsende Anzahl an Nutzer*innen aus der Türkei tauscht sich dabei über belanglose bis hin zu politischen Themen aus. Nicht neu ist, dass soziale Medien in der Türkei essentiell für Protestbewegungen sind, aber überwacht und reguliert werden.
Neu ist jedoch, dass es infolge von Äußerungen auf Clubhouse erstmals Festnahmen gab: In einem Raum mit bis zu 5.000 Teilnehmer*innen wurden die Proteste diskutiert und dabei die Freilassung festgenommener Aktivist*innen gefordert. Mindestens vier User wurden daraufhin festgenommen und sehen sich nun mit Vorwürfen von „Volksverhetzung“ konfrontiert.
Kurz eine zensurfreie Alternative
Bereits bei den Gezi-Protesten 2013 spielten die sozialen Netzwerke eine wesentliche Rolle für eine Gegenöffentlichkeit und um Menschen zu mobilisieren. Seit ein 2020 erlassenes Gesetz soziale Medien zunehmend einschränkt, schien Clubhouse kurz als neue zensurfreie Alternative zu dienen. Denn aufgezeichnet werden können die Unterhaltungen nur über Umwege. Auch Bots können noch nichts ausrichten oder die Gespräche stören. Daher dient die App weiterhin zum Live-Austausch während der Proteste und als Ort für regelmäßige Diskussionsforen.
Nach rasant steigenden Userzahlen sperrte China kürzlich Clubhouse. In Deutschland gibt es Bedenken wegen des Datenschutzes. Denn nur über Einladungen beitreten zu können, versprüht vermeintlich etwas Exklusives, erfordert aber die Freigabe aller eigenen Kontakte. Ausgeschlossen sind auch gehörlose Menschen und aktuell noch die, die kein iPhone besitzen. Als Reaktion auf eine Aufforderung der Polizei wurde #AsağıBakmayacağiz, zu Deutsch: „Wir schauen nicht nach unten!“, zum viralen Hashtag und dient seitdem als Protestruf.
„LGBT, so was gibt es nicht“
Auch Kanäle auf Instagram streamen live Aktionen und Zusammenstöße auf dem Campus. Die Studentin Beyza Buldağ wurde festgenommen, weil sie eine Whatsapp-Gruppe zum Austausch über die Proteste eröffnet haben soll. Auf einem auf Twitter viralen Bild zeigt die Demonstrantin Melis Akyürek ihre elektronische Fußfessel, auf der sie eine LGBT-Fahne platzierte: „Heute begann mein Hausarrest, weil ich an den Boğaziçi-Protesten teilgenommen habe. […] Es ist ein hässlicher Apparat, […] machen wir ihn ein bisschen bunter.“
„LGBT, so was gibt es nicht“, hieß es von Erdoğan in Anspielung auf die etlichen Regenbogen- und Transflaggen während der Proteste. Parallelen zu den Gezi-Prosten zog Erdoğan selbst und erwähnte die Demonstrierenden in einem Atemzug mit Terrorist*innen. Dabei geht es um weitaus mehr als ein paar Studis, die ihren Rektor kritisieren.
Gegenmodell zum Konservatismus der AKP
Als eine der anerkanntesten Bildungsstätten für die Elite im Land mit einem weltweiten Alumni-Netzwerk steht die Boğaziçi-Universität für das Gegenmodell zum Konservatismus der AKP. Die Ernennung eines der Universität fremden Rektors gilt daher als empfindlicher Eingriff in die ohnehin gefährdete akademische Freiheit.
Die Zivilgesellschaft der Türkei begehrt nun einmal mehr auf. Clubhouse dient dabei für viele junge Oppositionelle als neues Medium für den Protest. Aber auch einige konservative und rechte Politiker*innen kritisieren öffentlich das Vorgehen gegen die Demonstrierenden, darunter die Vorsitzende der nationalistischen İyi Parti, Meral Akşener. An die Protestierenden gerichtet hieß es von ihr: „Meine jungen Freunde, willkommen im Club der Terroristen!“
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