Wikipedia wird 20 Jahre alt: Ungleich verteiltes Wissen
Wikipedia feiert seinen 20. Geburtstag. Mangelnde Diversität und ein Rückgang aktiver Nutzer:innen gefährden jedoch das Gemeinschaftsprojekt im Netz.
Es gebe da eine Idee, „ein kleines Feature zu Nupedia hinzuzufügen.“ Das kleine Feature, das Larry Sanger mit dem Betreff „Lasst uns ein Wiki machen“ in einer teaminternen E-Mail vom 10. Januar 2001 ankündigt, geht fünf Tage später, am 15. Januar, unter wikipedia.com online. Schon nach wenigen Jahren wird es das größte Online-Nachschlagewerk der Welt sein, das Wissen für alle kostenlos zur Verfügung stellt. Dabei stand es anfangs gar nicht im Fokus der Entwickler.
Das eigentliche Projekt der Wikipedia-Gründer Jimmy Wales und Larry Sanger war die Online-Enzyklopädie Nupedia, die sie 2000 gründeten. Weil Fachartikel auf Nupedia erst zwischen mehreren Gutachter:innen mehrfach hin und her geschickt werden mussten, wie es auch in der Wissenschaft üblich ist, entwickelte sich die Plattform nur sehr langsam: In drei Jahren entstanden 27 Artikel.
Sanger und Wales überlegten sich also etwas Neues, Schnelleres. Zwar sollten Artikel auf Nupedia künftig immer noch aufwändig zwischen mehreren Gutachter:innen ausgetauscht werden, als Vorstufe bauten sie aber auf das sogenannte Wiki-Prinzip. Der Begriff ist aus dem Hawaiianischen entlehnt, wikiwiki steht dort für sehr schnell und findet sich etwa auf Expressbussen am Flughafen Honululu. Im Web bezeichnet er Seiten, die kollaborativ von User:innen bearbeitet werden können, die oft anonym agieren.
Der Grundgedanke von Sanger und Wales, dass nämlich auf Wikipedia künftig nicht nur einige wenige Beiträge schreiben können, sondern alle, war die Demokratisierung von Wissen im Netz; er näherte sich der Vision von Tim Berners-Lee, der mit seiner Erfindung des World Wide Web ein freies und nichtkommerzielles Angebot schuf, das für alle verfügbar sein sollte. Wikipedia ist eines der wenigen Webprojekte, das nichtkommerziell geblieben ist. Mehr noch: Die niedrige Einstiegsschwelle und das kollaborative Schreiben machen das Nachschlagewerk zu einem einmaligen Gemeinschaftsprojekt im Netz.
Klicken statt Blättern
Wikipedia überholte das eigentliche Hauptfeature Nupedia innerhalb weniger Monate. 2003 wurde Nupedia eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Wikipedia schon eine Million Beiträge. Bis heute ist es eine der weltweit meistbesuchten Webseiten. Leser:innen müssen, um etwas nachzuschlagen, keine veralteten Schmöker mehr durchblättern oder gar kaufen. Stattdessen aktualisieren Tausende User:innen freiwillig vorhandene Einträge, Lemmata genannt, in Echtzeit und verlinken sie untereinander. Innerhalb weniger Jahre verdrängte Wikipedia etablierte Enzyklopädien wie den Brockhaus oder die Encyclopædia Britannica und gilt mittlerweile als Massenmedium.
Zu seinem 20. Geburtstag ist Wikipedia immer noch das größte digitale Nachschlagewerk mit mittlerweile 53,73 Millionen Beiträgen in fast 300 Sprachen. Mit mehr als 2,5 Millionen Artikeln ist die deutschsprachige Wikipedia die weltweit viertgrößte Ausgabe. Am 11. Januar wurde sie mehr als 42 Millionen Mal aufgerufen. Hinter dem Projekt steht die Wikimedia Foundation mit Sitz in San Francisco. Sie garantiert den Betrieb, wirbt jährlich Spenden ein, greift aber nicht in die autonomen Wikipedias der einzelnen Sprachräume ein.
Voraussetzung für ein erfolgreiches Wiki-Prinzip ist die Beteiligung von möglichst vielen freiwilligen Autor:innen mit unterschiedlichen Biografien. Das Problem: Seit Jahren geht die Zahl der aktiven Editor:innen zurück. Waren in der deutschsprachigen Wikipedia 2006 noch 8.614 Autor:innen aktiv, waren es im Dezember 2018 nur noch 5.262. Aktive Wikipedianer:innen sehen sogar nur circa 300 Menschen als den „harten Kern“ der deutschsprachigen Wikipedia an, die Artikel schreiben. Jeden Tag kommen 350 bis 400 neue Artikel hinzu. Viele andere aktive User:innen tragen mittlerweile kaum noch zum inhaltlichen Ausbau bei, sondern korrigieren Fehler in den Texten und liefern fehlende Belege; als „Putztruppe“ wird das wikipedia-intern auch bezeichnet. Weitere Fachbereiche sind User:innen, die Fotos für Artikel knipsen oder als Administratoren mit erweiterten Rechten angemeldete Nutzer:innen sperren oder Artikel bearbeiten oder löschen können.
Während die Anzahl der Autor:innen abnimmt, steigt der Einfluss einiger weniger, fanden Forscher:innen heraus. Als „Super Editors“ bezeichnet der Wissenschaftler Taha Yasseri solche Autor:innen, die exzessiv viele Wikipedia-Beiträge schreiben und damit das Gemeinschaftsprojekt am Leben erhalten. Problematisch sei es, wenn „Super Editors“ vieldiskutierte Artikel dominieren, untereinander einen elitären Zirkel aufbauen und ihren Bereich „verteidigen“. Südkoreanische Forscher:innen haben 2016 in einer Arbeit festgestellt, dass sich einzelne User:innen regelrechte Grabenkämpfe in teils belanglosen Themenbereichen liefern; etwa, ob die Beatles-Mitglieder alphabetisch oder nach Relevanz angezeigt werden sollen.
Komplexes Regelwerk
Neuankömmlinge, die anfangs motiviert sind, sich einzubringen, haben es wegen des komplexen Regelwerks zunehmend schwer. Die über Jahre entwickelten Relevanzkriterien, also ob Personen, Ereignisse oder Themen zeitüberdauernd von Bedeutung sind oder nicht, und das neutrale Schreiben über einen Sachverhalt sind anspruchsvoll, und Stunden an Arbeit können manchmal kommentarlos gelöscht werden. Wissenschaftler:innen betrachten in einer Studie das raue Klima innerhalb der Wikipedia-Gemeinschaft zudem als einen Grund dafür, dass sich auch immer weniger Frauen einbringen.
Die Wikipedia-Autor:innenschaft besteht ohnehin größtenteils aus Männern. Laut einer Umfrage der Wikimedia-Foundation im Jahr 2018 sind es zwischen 80 und 90 Prozent. Wikimedia versucht das Problem mit Maßnahmen wie kollektiven Schreibaktionen oder der Gender Gap Force anzugehen. Trotzdem bleibt Wikipedia ein Männerverein, der auch öfter über Männer schreibt, wie die Autorin Theresa Hannig im April 2019 kritisierte. Weil es auf Wikipedia eine Liste mit männlichen, aber keine mit weiblichen Science-Fiction-Autorinnen gab, verfasste sie selbst eine. Kurz darauf wurde ihre Liste zur Löschung vorgeschlagen mit der Begründung, sie sei „komplett redundant“, „ein Feminismusprojekt“ und damit überflüssig.
Umso fragwürdiger erscheint dies angesichts der Tatsache, dass es auf Wikipedia Listen über die ehemaligen Nebendarsteller der TV-Serie „In aller Freundschaft“ oder über die weitesten Schussentfernungen zur Tötung von Menschen durch Scharfschützen gibt. Nach hitzigen Diskussionen innerhalb der Wikipedia-Community ging Hannigs Liste schließlich wieder online. Andere Autor:innen wurden indes Opfer von antifeministischen Hetzkampagnen.
Claudia Wagner von der Universität Koblenz untersuchte 2016 in einer Studie, wie sich die Geschlechterungleichheit in der Gesellschaft in Wikipedia-Inhalten widerspiegelt und verglich dazu die Biografien von Männern und Frauen in der englischsprachigen Version. Von den knapp 1,5 Millionen Biografien der englischen Wikipedia waren 2018 nur 17,7 Prozent Frauen.
Schwächen des Systems
Die Forscher:innen kamen zu dem Ergebnis, dass Frauen prominenter und relevanter als Männer sein müssen, damit ein Beitrag über sie erstellt wird. Alle Wikipedia-Einträge müssen aus mehreren verlässlichen und von den Autor:innen unabhängigen Quellen bestehen. So sollen auf der Enzyklopädie keine Trivialitäten und Desinformation landen.
Dass das System Schwächen hat, zeigt der Fall Donna Strickland. 2018 gewann die Physikerin den Nobelpreis, hatte zum damaligen Zeitpunkt aber keinen Wikipedia-Eintrag. Dieser war zuvor von einem Editor abgelehnt worden, weil große Zeitungen noch nicht viel über Strickland geschrieben hatten. Strickland wurde in ihrem Fachgebiet aber bereits vor der Preisverleihung als weltweit führend angesehen. Ihr Forschungspartner Gérard Mourou hatte indes bereits seit zehn Jahren einen Eintrag.
Eine automatisch aktualisierte Liste des kollaborativen Schreibprojekts „Women in Red“ zeigt weitere Biografien über Frauen, die wegen mangelnder Relevanz nicht veröffentlicht worden sind. So wurde am ersten Januar 2021 der Beitrag zur britischen Forscherin Fawzia Gilani-Williams zu islamischer Kinderliteratur mangels verschiedener Quellen nicht freigegeben. Relevante Inhalte werden durch die strengen Standards als irrelevant entfernt.
Larry Sanger schrieb in seiner Mail am 10. Januar 2001 zum neuen Feature namens Wikipedia: „Absolut jeder andere kann jede Änderung daran vornehmen, die er möchte.“
Diesem Leitgedanken wird Wikipedia derzeit nicht gerecht.
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