Sacrow und die Heilandskirche: Schaurig-schöne Idylle an der Havel
Sacrow ist eins der reizvollsten Flecken der Potsdamer Kulturlandschaft. Auf kleinstem Raum spiegelt das Dorf die Traumata des 20. Jahrhunderts wider.
Pisa? Siena? Florenz? Eine dieser Städte muss Modell gestanden haben für die Heilandskirche von Sacrow, mit der sich ein Stück italienische Renaissance in die märkische Landschaft verirrt hat. Weithin sichtbar erhebt sich die Pfeilerbasilika an einer kleinen Havelbucht und spiegelt sich mit ihrem frei stehenden Campanile aus blau glasierten Fliesen und blassrosa Backstein im kristallklaren Wasser. Ein malerischer Anblick. Eins der beliebtesten Fotomotive im Umkreis von Potsdam. Und Ziel unzähliger Ausflügler. Bezeichnenderweise steuern auch in der historischen Fernsehserie „Babylon Berlin“ Fritz und Greta das romantische Fleckchen mit dem Ausflugsdampfer an und verbringen unbeschwerte Stunden im Schilfgürtel unterhalb der Kirche.
Selbst jetzt bei der kalten Witterung kommen immer wieder Besucher hierher, streifen durch den Landschaftsgarten mit dem Schloss, das wie die Natur im Winterschlaf liegt, und um das Kirchenschiff herum. Bis der Nebel seinen Schleier über dem Zusammenspiel von Architektur und Landschaft lüftet, packen sie eine Thermoskanne aus dem Rucksack und trotzen den frostigen Temperaturen mit heißem Tee oder Glühwein.
Im Slawischen bedeutet Sacrow: hinter dem Gebüsch. Tatsächlich ist der Ortsteil von Potsdam eingebettet in üppig grüne Waldlandschaften, den sogenannten Königswald. König Friedrich Wilhelm IV., der Romantiker auf dem Thron, ließ ihn anlegen, nachdem er 1840 das Schloss erworben hatte. Zuvor hatte der Ort von der Landwirtschaft und der Zucht von Seidenraupen gelebt. Als der König sein Auge auf ihn warf, brach für die Dorfgemeinschaft eine neue Zeit an. Gewerbebetriebe mussten weichen, einige Menschen verloren ihre Arbeit. Dafür wurde das Schloss, eigentlich ein schlichtes Gutshaus, verschönert und Peter Joseph Lenné damit beauftragt, seine Umgebung in einen gefälligen Landschaftsgarten zu verwandeln.
Ludwig Persius sollte wiederum an der Havelbucht, wo oftmals Fischer Zuflucht bei Unwetter gesucht hatten, die Heilandskirche errichten. Der von Italien begeisterte Monarch selbst hatte die Skizzen dafür geliefert. Sichtachsen verbinden sie mit dem Schlosspark von Glienicke, der Pfaueninsel und anderen markanten Orten. Sacrow ist der letzte Baustein des preußischen Arkadiens, in das sich der König zwischen seinen Regierungsgeschäften wegträumte.
Der Schlosspark von Sacrow ist im Winter von 8 Uhr bis zum Einbruch der Dunkelheit geöffnet.
Die Heilandskirche ist samstags, sonn- und feiertags von 11 bis 15.30 Uhr geöffnet. Infos: www.heilandskirche-sacrow.de
Lesetipp: Mehr über die Geschichte von Sacrow ist in dem Buch „Das verwundete Paradies“ von Jens Arndt zu finden, das nach der Doku des RBB druckfrisch im L & H Verlag erschienen ist und 29 Euro kostet.
Und von dem auch heute noch viele träumen. „Das Wort vom Paradies fällt hier immer wieder“, sagt Autor und Regisseur Jens Arndt. „Als ich nach der Wende hierherkam, bin ich fast umgefallen vor so viel Schönheit.“ Nicht zufällig sei ja Sacrow 1992 in die Liste des Weltkulturerbes der Unesco aufgenommen worden. Aber nicht das allein hat den Politologen dazu bewogen, einen Dokumentarfilm und ein Buch über die Geschichte des Orts zu machen: „Wenn man genau hinschaut, birgt Sacrow die ganze deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in sich.“ Und die rollt Arndt in „Sacrow – das verwundete Paradies“ behutsam auf. Mithilfe von Zeitzeugen, die ihre ganz persönlichen Geschichten erzählen, entsteht ein vielschichtiges Porträt des idyllischen Orts.
Spuren in die Vergangenheit
Da ist zum Beispiel die Geschichte von Eva Tanner, die nach der Wende ein Grundstück erwarb und bei Sanierungsarbeiten hinter einer Scheuerleiste das Fotonegativ einer jungen Frau entdeckte. Dessen Spuren führten sie zu der jüdischen Familie Redelsheimer, die hier einst residierte. In akribischer Detektivarbeit hat Tanner herausgefunden, dass die junge Frau und andere Familienmitglieder 1933 emigrierten – sie hat sogar Kontakt zu ihren Nachfahren aufgenommen –, ihre Eltern indessen in den Vernichtungslagern der Nazis ums Leben kamen. Auch für Klaus von Dohnanyi, den früheren Bildungsminister und Ersten Bürgermeister der Hansestadt Hamburg, endete eine glückliche Jugend damit, dass sein Vater Hans als Widerstandskämpfer gegen Hitler aus dem Haus in Sacrow abgeholt und später im KZ Sachsenhausen umgebracht wurde.
Da war aus dem Traum des Italienschwärmers längst ein Albtraum geworden. Wie kam es dazu? Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich Sacrow zu einem beliebten Ausflugsziel entwickelt. Bald entdeckten auch wohlhabende Berliner den Ort für sich. Künstler, Intellektuelle, Politiker und Ufa-Stars siedelten sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hier an. Mal in schlichten Wochenendhäusern, mal in stolzen Villen. Traditioneller Landhausstil neben Neuer Sachlichkeit, Bauhaus neben schmucklosen Bauernhäusern oder energieeffizienten Holzkonstruktionen – noch heute liest sich die Gegend um die Kladower Straße wie ein Kompendium der Architekturgeschichte der letzten hundert Jahre. Es würde schon für sich allein genügend Stoff für Führungen abgeben.
Dass in den 1930er Jahren viele jüdische Familien unter den Hausbesitzern waren, konnte den Nazis nicht verborgen bleiben. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Anwohner enteignet oder zum Verkauf ihrer Häuser gezwungen und vertrieben wurden. Während viele von ihnen in Konzentrationslagern endeten, machte es sich Generalforstmeister und SS-Mitglied Friedrich Alpers im Schloss Sacrow bequem. Noch heute hängen seine Jagdtrophäen an den Wänden des teilrenovierten Baus. Laut Günter Voegele vom Verein Ars Sacrow, der sich die Förderung des Kulturerbes in Sacrow auf die Fahnen geschrieben hat, will man bewusst nicht alles „wegsanieren“. Vielmehr thematisiert der Verein mit sehenswerten Ausstellungen und Veranstaltungen die zwiespältige Vergangenheit des Gebäudes, das nach Alpers noch ganz unterschiedliche Bewohner erlebt hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg erholten sich hier zunächst Opfer des Faschismus, dann wurde es zum Gästehaus für Schriftsteller der DDR. Mit dem Mauerbau 1961 zogen wiederum Soldaten des Grenzregiments 48 in das geschichtsträchtige Herrenhaus ein.
In dieser Zeit änderte sich das Leben der Dorfbewohner, zu denen inzwischen viele Flüchtlingsfamilien zählten, noch einmal dramatisch. Im Sperrbezirk an der deutsch-deutschen Grenze, die durch die Havel verlief, war ihnen nicht allein der Blick auf die Havel und die Heilandskirche im Todesstreifen versperrt. Es durfte auch keiner unkontrolliert das Dorf betreten oder verlassen.
Einige Sacrower verlebten hier dennoch eine relativ unbeschwerte Zeit. Für andere wurde das Leben indessen zur Hölle. Unter anderen für zwei Schwestern, deren Bruder Lothar Hennig eines Nachts von Grenzposten erschossen wurde, weil sie ihn offensichtlich mit einem geflüchteten russischen Soldaten verwechselt hatten. Weder wurde der Fall aufgeklärt, noch gab es eine Entschuldigung. Stattdessen wurde behauptet, der junge Mann sei aufgrund eines Fluchtversuchs selbstverschuldet umgekommen. Danach war für die Familie nichts mehr wie vorher. „Niemand sprach mehr mit uns. Niemand fragte, wie es uns geht, oder hat uns getröstet“, klagt Ilona Lange im Dokumentarfilm von Jens Arndt.
Heute erinnert eine Stele an den tragischen Tod des Jugendlichen und vieler anderer Todesopfer. Sie ist eine von vielen Stationen auf dem Berliner Mauerweg, der auf 160 Kilometern das ehemalige Westberlin umrundet. Für viele Radfahrer ist er einfach nur eine reizvolle Sightseeing-Strecke, auf der es alles Mögliche zu entdecken gibt – unter anderem die Heilandskirche, bei der sie natürlich einen Fotostopp einlegen, ohne zu ahnen, was sich hier früher abspielte. Und dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass der Sakralbau heute wieder so schön anzusehen ist. Nachdem Grenztruppen kurz nach dem Mauerbau das Innere zerstört hatten, drohte auch die äußere Hülle in den folgenden Jahrzehnten zu zerfallen.
Gerade noch rechtzeitig wurde die Kirche in den 1980er Jahren vor dem Verfall gerettet mit etwa einer Million Mark, die der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Richard von Weizsäcker, an Manfred Stolpe als Vertreter des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR übergab. So konnte hier einige Jahre später, nach dem Fall der Mauer, an Heiligabend 1989 nach 28 Jahren wieder ein Gottesdienst stattfinden. Für viele Dorfbewohner ein unvergesslicher Tag, an den sie sich alle Jahre wieder an Weihnachten erinnern.
Allerdings mussten noch einige Jahre vergehen, bevor auch das Innenleben der Kirche wieder intakt war. Bis der Altartisch aus Zedernholz, der blaue Himmel mit gelben Sternen an der Decke und das Gemälde von Carl Begas und Adolph Eybel in byzantinischem Stil, das mit Christus als Weltenretter die Apsis ausfüllt, wieder beliebte Kulisse von Hochzeiten, Konzerten und Gottesdiensten werden konnte. Sind damit Sacrows Wunden mehr oder weniger verheilt? Ein Rundgang durch die Dorfstraßen, wo sich auch heute wieder allerlei Prominente wie Max Rabe niedergelassen haben, lässt Zweifel aufkommen: Wohin man blickt, wird auf schrillen Plakaten protestiert: gegen eine geplante Mobilfunkantenne, gegen die Kloake zwischen Havel und Sacrower See, gegen den Durchgangsverkehr von täglich 3.200 Fahrzeugen … „Warum lassen Sie das zu, Axel Vogel?“, muss sich der brandenburgische Umweltminister fragen lassen. Was steckt dahinter?
„Na ja, die meisten hier müssen vor die Tür gehen, wenn sie telefonieren wollen, weil sie so schlechten Empfang haben, und da soll Vodafone Abhilfe schaffen“, erklärt ein Anwohner. Aber das wollten andere, die guten Empfang haben und vielleicht ohnehin nur am Wochenende nach Sacrow kommen, nicht akzeptieren. Die würden sich stattdessen darüber ärgern, dass der Denkmalschutz ihnen hohe Auflagen macht, weil ihre Villen mitten im Weltkulturerbe der Unesco stehen, andererseits aber ein Sendemast zwischen die Sichtachsen der Kulturlandschaft geraten könnte. „Aber ich denke, man wird sich irgendwie einigen“, gibt sich der Sacrower zuversichtlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Donald Trump wählt seine Mannschaft
Das Kabinett des Grauens
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels