Nachruf auf taz-Autor Klaus Hartung: Mit Wortgewalt und Denklust
Wie kein anderer begleitete Klaus Hartung das rotgrüne Berlin und die Epochenwende des Mauerfalls. Er starb am Wochenende im Alter von 80 Jahren.
Er erzählte, dass das Schreiben nicht mehr so gut funktioniere. Ein Geständnis, das seine Zuhörer mehr schmerzte als ihn selbst. Denn Hartungs Stimme war vor allem das geschriebene Wort, mit dem er zuerst in der taz und später in der Zeit über mehr als zwei Jahrzehnte lang als Kommentator und Essayist die politische Debatte bereicherte. In unnachahmlicher Manier, wortgewaltig und mit fast bestürzender Leidenschaft. Bis heute hat kein anderer in der taz mit solcher Regelmäßigkeit und Intensität kommentiert.
Klaus Hartung kam aus dem Erzgebirge, wo er bis 1955 in der Kleinstadt Olbernhau lebte, „in der DDR“, wie er in seiner autobiografischen Notiz stets hinzufügte. Im Jahr 1955 siedelte die Familie in die Bundesrepublik über, gekoppelt mit der strikten Aufforderung an Sohn Klaus und Tochter Heidi, ab sofort den sächsischen Dialekt zu unterdrücken. Abitur in Hagen, Studium in Bonn und ab 1963 in Berlin. Klaus Hartung studierte „alles“: Germanistik, Philosophie, Religionswissenschaften, natürlich auch Politik, Soziologie und zur Verblüffung aller sogar Sport; sein Interessengebiet war universal, breit wie ein Flugzeugträger – und wurde mit den Jahren immer noch breiter.
Dann kam 68, und 68 das war natürlich 67, genauer: der 2. Juni 1967, die Nacht des Polizeiangriffs auf die protestierenden Studenten vor der Deutschen Oper, wo der Schah von Persien der „Zauberflöte“ lauschte. Der Mord an Benno Ohnesorg, die Befehlsketten von Altnazis in der Polizei, die den Mörder in Sicherheit brachten, dazu der Operateur im Krankenhaus Moabit, der die Einschussränder verschwinden ließ, die Lüge von stumpfer Gewalt und das totale Demonstrationsverbot.
Der Staatsapparat habe damit den Schleier der Demokratie weggerissen, schrieb Hartung später: „Der 2. Juni 1967 markierte den Beginn einer bis heute geführten Debatte über Gegenöffentlichkeit, über die Medien, über Wahrheit und Lüge, oder, wie man heute formulieren würde, über Fake News, über Verschwörungstheorien, über die Wahrheit und die Deutungshoheit gesellschaftlicher Entwicklungen.“
Ende 1969 zerriss die Protestbewegung. Die einen gingen in den Untergrund, die anderen schlossen sich den dogmatischen Kaderparteien der Marxisten-Leninisten an. Klaus Hartung widerstand beidem. Er erkannte, dass „die entlarvte Demokratie sich auch demokratisierte. Der entlarvte ‚faschistoide‘ Obrigkeitsstaat triumphierte nicht, sondern begann dem Rechtsstaat zu weichen“.
Es sei seine große Leistung gewesen, dem bewaffneten Kampf zu widerstehen und stattdessen im „lebenslangen Ringen“ den Weg zurück in die Arme der Gesellschaft zu suchen, sagt sein langjähriger politischer Weggefährte Udo Knapp. Doch zunächst schlug Klaus Hartung, der zusammen mit seiner ersten Ehefrau Dagmar für die Rote Hilfe und andere 68er-Institutionen gearbeitet hatte, einen ganz anderen Weg ein.
Er ging nach Triest, arbeitete dort mit dem Psychiater Franco Basaglia zusammen, der die alten Irrenanstalten auflöste. Und Hartung kaufte mit seinen Patienten „schöne blaue Anzüge“ und fuhr sie im Auto spazieren, wie er stolz berichtete. „Die neuen Kleider der Psychiatrie“ hieß sein Buch über die radikale Psychiatrie- und Gesellschaftskritik Basaglias, mit dem Hartung einen wichtigen Impuls in der deutschen Psychiatriedebatte setzte.
Doppelte Kommentarlänge: selbstverständlich
Im Jahr 1980 kehrte er zurück nach Deutschland. Natürlich reizte ihn die taz, wo er sich ganz selbstverständlich an den langen Redaktionstisch setzte, jenes Möbelstück, das aus der Kommune K 1 stammte, die wiederum zu Hartungs Biografie gehörte. Vom ersten Tag an schrieb er lange Magazinseiten voll mit Reflexionen über die Traumata der Nachfolgegenerationen der KZ-Opfer, über das Erzgebirge oder über Männer, die vom Zigarettenholen nicht nach Hause kommen, und natürlich über die aktuelle Politik der Regierung Kohl, über den Richtungsstreit bei den Grünen.
Mit der Ära Walter Momper stieg Hartung zum wichtigsten Kommentator und Begleiter von Rotgrün auf. Er bläute der taz-Leserschaft ein, dass die Grünen „keine besseren Menschen“ seien, und legte doch die grüne Messlatte ziemlich hoch. Ganz selbstverständlich bekam er von der Redaktion die doppelte Kommentarlänge zugestanden, um selbstbewusst und angriffslustig, aber nicht polemisierend, die rot-grünen und grüninternen Beißkrämpfe mit klinischer Präzision zu sezieren.
Höhepunkt seines journalistischen Lebens war die Epochenwende 1989. Sein Datum war nicht der „amtliche Mauerfall“ des 9., sondern der weithin ignorierte Mauerfall am 3. November. Hartung saß kettenrauchend im Inlandressort und erklärte uns, dass der Eiserne Vorhang soeben verschwunden sei. Mit dem visumfreien Verkehr von der DDR in die ČSSR und der Aufhebung der Visumpflicht für DDR-Bürger für den Grenzübertritt von der ČSSR nach Bayern am 3. November war der Weg in die Freiheit offen.
Hartung schrieb: „Man stelle sich vor, ein Traum geht in Erfüllung, und keiner merkt es so richtig: Die Mauer ist gefallen. Seit Freitagnacht kann sich ein DDR-Bürger aus Karl-Marx-Stadt in seinen Trabi setzen und nach München fahren. Einen Personalausweis und Sprit – mehr braucht er nicht. Seit Freitagnacht wird nur noch Mauer gespielt, mit Beton, Stacheldraht, Flutlicht und Patrouille.“
Hartungs Klarblick wurde erst viele Jahre später von dem Historiker August Heinrich Winkler gewürdigt, der ihm bescheinigte, als „einer der wenigen“ die Bedeutung der Grenzmaßnahmen erkannt zu haben.
Chronist der Einigung
Es folgten die historischen Tage und Wochen im Blitzlichtgewitter von Neunzehnhundertneunundachtzig, in denen Hartung fast täglich kommentierte. Kernsatz: „Die deutsche Einheit hat die Vordenker überrollt und das Nachdenken zum Hinterherdenken gemacht.“ Er war der herausragende deutsche Chronist des Einigungsprozesses. Der Kritik der Linken an dem rasenden Tempo, mit dem sich die DDR wie die sprichwörtliche Brausetablette auflöste, hielt er entgegen, dass den Kritikern „das Gefühl für den Zeitdruck derjenigen Menschen fehlt, die glauben, 40 Jahre ihres Lebens verloren zu haben.“
Im Jahr 1991 holte ihn die Zeit. Die Hoffnung, dass sein Einfluss damit noch wachsen könnte, erfüllte sich nicht. Klaus Hartung musste als Berlinkorrespondent viel Schwarzbrot backen, die Tortenstücke der großen analytischen Strecken in der Wochenzeitung waren meist den ehemaligen, den amtlichen und zukünftigen Chefredakteuren und Herausgebern reserviert.
Dennoch wartete ein begeisterter Leserinnenstamm jeden Donnerstag auf neuen Stoff und fand ihn vor allem in Reportagen und Essays, die er für das Zeit-Feuilleton schrieb. Sein riesiger Freundeskreis traf sich regelmäßig zu großen Geburtstagsfeiern, die er mit seiner Frau Anita im Bergmannkiez organisierte, nach 1990 auch mit den ostdeutschen FreundInnen Eva und Jens Reich, Marianne Birthler, Monika Maron und vielen anderen. Klaus Hartung war auch Genießer mit großer Freude am Essen, am Lesen und Rauchen.
Im Jahr 2005 die Pensionierung und der schmerzhafte Abschied vom Journalismus. Hartung konzentrierte sich in den nächsten Jahren mit vollem Ehrgeiz auf die Malerei, heimste Kunstpreise ein, stellte aus. Er hatte sein ganzes Leben lang gemalt – nebenher, vor allem italienische Motive.
Smalltalk: nie seine Sache
Jetzt malte er im eigenen Atelier mit derselben Ernsthaftigkeit, mit der er jedes Gespräch führte und jeden Artikel schrieb. Man konnte ihn dort zwischen überfüllten Aschenbechern und unzähligen Bildern besuchen und mit ihm reden. Smalltalk war nie seine Sache. Klaus Hartung blieb immer der kämpferisch-kritische Citoyen, der „den kritischen Diskurs“ suchte und liebte. Der die Formulierkunst und Denklust hochhielt. Der gern in Thesen sprach mit immer neuen Gedanken, und der oft schon zur Begrüßung ein Thema mitbrachte: „Hast du gehört, was Merkel, Habeck, Putin, Trump gestern …?“
Die Gedankenflüge waren überraschend. Er konnte einem umstandslos den Erfolg der italienischen Fußballnationalmannschaft als Folge der Turbulenzen der italienischen Geschichte herleiten. Genauso selbstverständlich erklärte er seiner Ehefrau Anita und den Töchtern mit enzyklopädischem Wissen Architektur und Geschichte großer Bauwerke in den Metropolen der Welt.
Zuletzt, als die Malerei stockte, blieb sein Engagement für die Rekonstruktion der Mitte und den Bau des Stadtschlosses. Und die Rolle des begeisterten, überaus stolzen Großvaters und Familienvaters. Seinen 80. Geburtstag hat er noch erlebt. Auch seine drei Töchter durften ihn trotz Coronakrise noch wenigstens einmal im Pflegeheim besuchen. Am Wochenende starb Klaus Hartung an den Folgen eines schweren Sturzes.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos