Zehn Jahre Arabischer Frühling: Die zweite Welle ist klüger

Sudan, Algerien, Libanon, Irak: Was die arabischen Nachzügler aus der ersten Protestwelle von 2011 gelernt haben.

Zwei Männer trauern in einem Zelt

Bagdad, Irak 2020: Trauer nach dem Tod eines Freundes Foto: Emanuele Satolli/constrasto/laif

KAIRO taz | „I can't breathe“ – „Ich kann nicht atmen“: Die berühmten letzten Worte George Floyds, welche die Black-Lives-Matter-Bewegung befeuerten, sind auch so etwas wie eine permanente arabische Lebenserfahrung. Die arabischen Aufstände vor zehn Jahren hatten zwar zu einem kurzem Aufatmen geführt, doch seitdem wird den Menschen in den meisten arabischen Ländern wieder die Luft abgeschnürt.

Auf der einen Seite kämpfen sie mit wachsenden Armutsraten, einer steigenden Ungleichheit und der höchsten Jugendarbeitslosigkeit der Welt. Auf der anderen Seite verspüren sie täglich ihre Machtlosigkeit. Dekliniert man die Möglichkeiten der Menschen in der arabischen Welt in den letzten zehn Jahren durch, mit dieser Lebenssituation umzugehen, bleiben nur vier Optionen:

Sie können als stillschweigend Besiegte resignieren, ein Lebensmodell, dem sicherlich die Mehrheit folgt. Eine Minderheit wählt die Option der Militanz und wird von Organisationen wie dem „Islamischen Staat“ (IS) rekrutiert. Ein anderer Teil packt die Koffer und flüchtet, oftmals nach Europa. Und schließlich gibt es nach jahrelanger Pause in letzter Zeit wieder vermehrt jene, die voller Wut und Leidenschaft mutig auf die Barrikaden steigen.

Die Arabellion 2.0 begann im Februar 2019, als die Menschen in Algerien und im Sudan gegen die beiden Autokraten Abdelaziz Bouteflika und Omar al-Bashir auf die Straße gingen. Es dauerte nur bis April und die beiden arabischen Langzeitdiktatoren waren gestürzt. Im Oktober desselben Jahres folgten dann große Protestbewegungen auch im Libanon und im Irak.

Dort geht es nicht darum, einen Diktator zu stürzen, sondern darum, ein vollkommen ineffektives politisches System zu reformieren, in dem die Konfession im Mittelpunkt der Politik steht. Ob in Algier, Khartum, Beirut oder Bagdad: Die Demonstrant*innen haben nicht nur gelernt, ihre Angst zu überwinden, sie haben auch wichtige Lehren aus den Aufständen vor zehn Jahre gezogen.

Die erste Lektion: Um wirklich und langfristig etwas zu verändern, braucht die arabische Protestbewegung einen sehr langen Atem. Sämtliche neue Proteste, ob in Algerien, im Sudan, im Libanon oder im Irak, dauerten wesentlich länger als die Aufstände 2011. Sie gingen über viele Monate, bevor sie im Frühjahr 2020 von der Coronapandemie zumindest vorläufig ausgebremst wurden. Die Ägypter waren 2011 nur 18 Tage auf der Straße und brachen ihren permanenten Protest nach dem Sturz Hosni Mubaraks weitgehend ab in dem trügerischen Gefühl, den Sieg bereits in der Tasche zu haben.

Die zweite Lektion: „Salmiya“, „friedlich“, ist einer der wichtigsten Slogans der neuen Protestbewegung, obwohl die Sicherheitskräfte in allen vier Ländern immer wieder brutal gegen die Demonstrierenden vorgegangen sind. Das ist vielleicht am bemerkenswertesten im Irak, da die Demonstranten dort nicht nur von offiziellen Sicherheitskräften, sondern oft auch von Parteimilizen erschossen wurden – eigentlich ein sicheres Rezept für einen Bürgerkrieg. Aber hier gilt wohl Syrien als abschreckendes Beispiel.

Nachdem das Assad-Regime dort völlig skrupellos auf die zunächst friedlichen Demonstranten schießen ließ, begann sich die syrische Opposition, auch mit Überläufern aus dem syrischen Militär, zu militarisieren. Das war ihr wohl größter Fehler: Denn damit hatte das Regime in Damaskus die Protestbewegung genau da, wo es sie haben wollte. Schließlich ist es für das internationale Image besser, brutal gegen die andere Seite vorzugehen, wenn diese auch bewaffnet ist und zurückschießt.

Die dritte Lektion: Vorsicht bei Übergangslösungen, in denen das Militär als Retter der Nation auftritt, sowie bei Wahlen, die zu früh angesetzt werden. Blickt man auf den Fall Ägypten 2011, wirkt es heute naiv, dass die dortigen Tahrir-Aktivisten nach dem Sturz Mubaraks mit dem Slogan „Das Volk und das Militär sind ein und dieselbe Hand“ die Einheit von Protestbewegung und Armee beschworen.

Ihr zweiter großer Fehler war, sich zu schnell auf Wahlen einzulassen, obwohl die verkrusteten Strukturen des „tiefen Staates“ weiterhin existierten und noch keine einzige staatliche Institution und vor allem weder der Sicherheitsapparat noch das Militär reformiert waren. So gab es nur zwei alteingesessene politische Strukturen im Land: die des alten Systems und die der islamistischen Muslimbruderschaft. Sich in dieser Situation auf schnelle Wahlen einzulassen war für die jungen, unerfahrenen Tahrir-Aktivisten Ägyptens politischer Selbstmord.

Dass der Wahlsieg an die Islamisten ging, lieferte Ägyptens Militär später die Rechtfertigung, selbst die Macht zu übernehmen. Übergangsperioden, die vom Militär organisiert werden, erweisen sich also als gefährliche Fallen. Das ist der Grund, warum die algerischen Demonstranten die ersten Wahlen nach dem Sturz Bouteflikas hinauszögern wollten. Und das ist auch der Grund, warum die Sudanesen durchgesetzt haben, erst nach einer zweijährigen Übergangsperiode erstmals zu wählen.

Die vierte Lektion: Um seine Forderungen zu formulieren, um einen langen Atem zu haben, aber vor allem, um eine Übergangsperiode auszuhandeln, braucht es irgendeine Form von politischer Organisation. Was zunächst als Stärke der arabischen Protestbewegungen erschien, dass sie spontan und unorganisiert und dadurch für die repressiven Sicherheitsapparate nur schwer greifbar waren, erwies sich am Ende als Schwäche.

In Algerien übernahmen Bürgerinitiativen, Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, Oppositionsparteien und Studierendengruppen die Rolle, den Aufstand in eine Organisationsform zu gießen. Die ursprünglich zersplitterte sudanesische Opposition hatte sich im Januar 2019 zu einer Koalition, den „Forces for Freedom and Change“, zusammengetan. Der Zusammenschluss von Berufsverbänden, Ärzten, Ingenieuren, Lehrern, Anwälten und Journalisten spielte schließlich eine Schlüsselrolle beim Aushandeln eines Machtteilungsabkommens mit dem Militär.

Die fünfte Lektion könnte mit dem Titel „Vorsicht vor den Nachbarn“ überschrieben werden. In der arabischen Welt hat sich eine unheilige Allianz aus den Kronprinzen Saudi-Arabiens und der Arabischen Emirate sowie dem ägyptischen Präsidenten gebildet. Es ist ein restauratives Bündnis mit dem Ziel, alle Veränderungen in der Region, die ihm am Ende selbst gefährlich werden könnten, zu verhindern und ihre Pax Autocratica zu verteidigen.

Der Sudan ist dafür ein gutes Beispiel: Keiner der drei Fürsten der Restauration hat ein Interesse daran, dass die jetzt ausgehandelte Übergangszeit tatsächlich mit dem Verschwinden des Militärs aus der Politik in einen demokratischen Staat mündet. Das wäre ein Konstrukt, das ihre Legitimität vor der eigenen Bevölkerung in Zweifel ziehen würde.

Natürlich haben auch die arabischen Autokraten dazugelernt. Sie wissen, dass sie – egal wie brutal sie gegen ihre eigene Bevölkerung vorgehen – keinerlei ernsthaften internationalen Gegenwind befürchten müssen. Sie haben auch gelernt, wie sie Medien gleichschalten und die sozialen Medien nicht nur überwachen, sondern auch selbst benutzen können, um bei jedem Veränderungsdiskurs Zweifel zu säen. Sie haben gelernt, keinerlei politischen Raum zuzulassen, in dem sich Dissens organisieren kann. Und sie wissen, wie sie sich gegenseitig in der Pax Autocratica unterstützen können, um in der Region alle Funken zu löschen, die ein Feuer in ihrem eigenen Land auslösen könnten.

Und wenn dann tatsächlich ein Aufstand ausbricht, haben sie gelernt, ihn einfach auszusitzen und zu hoffen, dass ihren Gegnern irgendwann die Luft ausgeht, dass in dem Chaos, das Aufstände ohne Zweifel produzieren, bald die Sehnsucht nach der alten Normalität wieder überhandnimmt. Und wenn das alles nicht klappt, können sie immer noch hoffen, dass sich ihre Gegner wie einst die syrische Opposition militarisieren und sich so angesichts der allmächtigen arabischen Sicherheitsapparate damit den Todesstoß geben.

Aber all das ändert nichts daran, dass sich die Autokraten in der Defensive befinden. Sie alle leben in einem Zustand, in dem sie jeden Tag die Unsicherheit ihrer Macht spüren. Je mehr sie die repressiven Schrauben anziehen, desto mehr Menschen entfremden sich von dem System und suchen nach einem Weg, ihren Ärger loszuwerden. Das ist die Essenz der autokratischen Unsicherheit.

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Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

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