Umstrittene Wildtierhaltung: Jetzt mal ganz natürlich
Zoos versprechen heute, ihre Tiere artgerecht zu halten. Doch wie viel Natur ist dort möglich? Und sind Zoos überhaupt noch zeitgemäß?
Z uerst knipst Boris der Ziege den Kopf ab. Er erledigt das fachmännisch, nahezu lautlos und mit einer Leichtigkeit, die erahnen lässt, wie viel Kraft der Kiefer eines ausgewachsenen Sibirischen Tigers hat. Boris hat keine Eile, er kaut am Genick des toten Bocks herum, mit einer Tatze auf dem Ziegengesicht, als sei ihm der starre Blick unangenehm.
Empfohlener externer Inhalt
Dann richtet er sich auf und verkeilt sich in der Schulter seiner Beute, die immer noch an einem Drahtseil über dem Boden baumelt. Er zerrt an ihrem Kadaver, bis das Fleisch nachgibt. Ein lauter Ratsch ist zu hören, als würde man ein Kleid zerreißen. Ziegeninnereien stürzen mit einem satten Klatschen auf den Rasen. Vor dem Gehege deutet ein kleines Mädchen auf Boris und kichert, ihre Mutter schüttelt angewidert den Kopf. „Ich weiß, das ist ein Tiger, ich weiß, das ist Natur“, sagt sie. „Aber das ist mir einfach zu brutal.“
Blutige Raubtierfütterungen wie diese gehören im Zoo von Dänemarks drittgrößter Stadt Odense zur normalen Besucherbespaßung. Und sie sind in einem Jahr, in dem es coronabedingt nur wenige Unterhaltungsmöglichkeiten gibt, eines der wenigen verbliebenen Freizeitangebote.
Vor einer Woche stand Säbelantilope auf dem Speiseplan, diesmal der Ziegenbock, mit dem die Kinder keine zwei Stunden zuvor noch im Streichelzoo geschmust haben. Der Bock musste sterben, weil er sonst Mutter und Schwestern gedeckt hätte und das Gehege zu voll zu werden drohte. Eine solche Tötung ist für Dänemarks Zoos ein üblicher Vorgang, hier gibt es keine Geburtenobergrenzen, die Vermehrung wird im Nachhinein reguliert.
Und eigentlich ist es ja auch sinnvoll, das Fleisch aus dem Zoo auch im Zoo zu verfüttern. Die Wege sind kurz, die Innereien haben viele Nährstoffe und die Raubtiere sind besser beschäftigt, als wenn man ihnen mundgerechte Steaks ins Maul wirft. „Wir zeigen die Natur so echt, wie wir können“, sagt Zoodirektor Bjarne Klausen und hebt vor dem Tigergehege ein zerknülltes Butterbrotpapier vom Boden auf. „Doch die Natur ist manchmal grausam.“
Mit grausamer Natur haben wir Menschen es aber oft nicht so. Wenn wir ehrlich sind, wollen wir gar nicht so genau wissen, wie sie wirklich ist. Wir mögen es lieber romantisch, und bitte nicht so eingepfercht wie es früher war, als man die exotischen Tiere noch in viel zu kleinen Käfigen hielt. Geräumig, luftig und artgerecht soll es heute sein und der Ausflug in den Zoo zum Wohlfühlerlebnis für Mensch und Tier werden. Ein anspruchsvoller Wunsch – und die zoologischen Gärten versuchen, diesem Wunsch zu entsprechen.
Dabei hatten sie früher mal einen anderen Auftrag, nämlich den, Sensationen zu zeigen. Doch heute dreht sich alles um den Artenschutz. Die Zoobetreiber sagen, sie halten Tiere, um sie vor dem Aussterben zu bewahren und um uns Besuchern die Natur nahe zu bringen. Weil wir nur schützen würden, was uns wichtig sei, und nur das wichtig, was uns nah und vertraut ist. An die 800 Zoos gibt es allein in Deutschland und damit mehr Tierparks als in jedem anderen Land. Jede Menge Einrichtungen also, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Tiere artgerecht zu behandeln.
Aber woher wissen wir, wie Tiere behandelt werden wollen? Und geschieht das alles wirklich in ihrem Sinne? Oder gar in unserem eigenen?
Das Verfüttern von ganzen Schmuseziegen, Pferden und Rindern, Zebras oder Gnus, wie im dänischen Odense Zoo üblich, findet hierzulande deutlich seltener und eher hinter den Kulissen oder nach den Öffnungszeiten statt. Überhaupt bekommen die Raubkatzen in deutschen Zoos vorwiegend Geflügel, Kaninchen oder bereits zerlegte, größere Tiere. Für eine Keule oder ein Stück Rücken haben wir schließlich weniger Mitgefühl übrig als für eine ganze Ziege – das kennen wir von der Fleischtheke.
Und selbst die Dänen machen nicht alles mit. Spätestens bei Affen, einer natürlichen Nahrungsquelle von Tigern, sei auch deren Schmerzgrenze erreicht, sagt Odenses Zoodirektor Bjarne Klausen. „Einen Makaken verfüttern, das würden unsere Gäste nicht mitansehen wollen.“
Aber wenn wir zwar echte Tiere, doch die Natur in ihrer Echtheit nicht wollen, was wollen wir stattdessen?
Unter dem Namen „Zoo der Zukunft“ entsteht im Norden von Leipzig ein moderner Entwurf unserer Wunschnatur. Gleich nach dem Tiergarten Schönbrunn in Wien belegt er schon jetzt Platz zwei der besten Zoos in Europa. „Wir wollen Tierarten erhalten und den Leuten Naturerlebnisse bieten“, sagt Jörg Junhold, der den Leipziger Zoo seit 1997 leitet. Er schlendert über die Baustelle in der Nähe des Eingangs, wo bis zum nächsten Jahr ein großzügiges Aquarium entstehen soll. Die geplanten Elemente zeichnet er mit beiden Händen in die Luft: vorn der Koi-Teich, hier der Quallenkreisel, dahinter das Tiefseebecken. Es folgt eine kleine Werbeeinlage: „Unsere Besucher tauchen in den Lebensraum der Tiere ein. Bei uns erleben sie die Tiere als Botschafter der Wildnis, nicht als Statisten in einer Show.“
Mehr als 100 Millionen Euro hat Junhold für die Umgestaltung seines Zoos investiert. Sechs Themenwelten gibt es bereits, darunter eine riesige Tropenhalle namens „Gondwanaland“ und die angeblich weltgrößte Affenanlage „Pongoland“.
Jetzt sollen neben dem Aquarium noch ein Feuerland mit Unterwassertunnel und eine asiatische Inselwelt mit neuen Volieren entstehen. „Wir bauen mit naturnahen Materialien, schaffen großzügigere Rückzugsorte“, erklärt der Direktor. Und dann sagt er noch etwas Interessantes: „Das Hauptaugenmerk bei der Umgestaltung liegt auf den Tieren, weniger auf unseren Besuchern.“
Die Besucher sollen natürlich immer noch Tiere beobachten können, aber die Art und Weise ihrer Zurschaustellung hat sich geändert. Kein Mensch würde sich heute freiwillig die im 18. Jahrhundert übliche Tierhaltung ansehen wollen, wie sie etwa in der Schönbrunner Menagerie in Wien praktiziert wurde. Der Kaiser hatte dort Elefanten, Bären und Großkatzen hinter die grünen Gitterstäbe winziger Pavillons geklemmt. Seinem Beispiel folgten andere europäische Großstädte, mit dem fragwürdigen Ziel, möglichst viele, möglichst exotische, möglichst gefährlich wirkende Tiere auf engstem Raum zu präsentieren. Sensationen zum kleinen Preis.
Damit die lebenden Ausstellungsobjekte nicht allzu schnell dahinsiechten, änderte man mit der Zeit die Zooarchitektur. Die Bauten wurden funktionaler, hygienischer, hässlicher und die Tiere starben nun nicht mehr hinter Schmuckzäunen, sondern in leicht zu reinigenden, gefliesten Zellen. Das ging eine Weile so dahin, bis Carl Hagenbeck Anfang des 20. Jahrhunderts in Hamburg-Stellingen einen Tierpark eröffnete, der neue Maßstäbe setzte mit seinen großzügigen Freianlagen und der meisterlich angelegten „wilden“ Natur.
Die meisten Zoos folgten seinem Beispiel, fortan sollten die Menschen echtes Tierleben statt bloß Tiere sehen. Doch die Tierhaltung war in vielen Belangen unzureichend, wegen zu wenig Geld oder zu wenig Erfahrung. Die Zoos zeigten so viele Tierarten wie möglich. So blieb für die Tiere nur wenig Platz und für das Personal nur wenig Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen. Die Folge: physische und psychische Krankheiten, Wunden und Verhaltensstörungen. Die Bären, Elefanten und Großkatzen wirkten gestresst, verletzten sich selbst, liefen ihr Gehege auf und ab.
Heute gehören diese traurigen Zeiten der Vergangenheit an, jedenfalls fast. Stephan Hering-Hagenbeck, Carl Hagenbecks Schwiegerenkel, wechselte Anfang des Jahres vom Hamburger Tierpark Hagenbeck nach Wien. In der Hansestadt war er für die großen Panoramen und Grabenanlagen verantwortlich gewesen, für das Tropenaquarium, die Elefantenfreilaufhalle, das Eismeer. Im Tiergarten Schönbrunn krempelt er nun den ältesten Zoo der Welt um. Die grünen Gitterstäbe müssen allerdings bleiben, die stehen unter Denkmalschutz.
Links vom Restaurant im Kaiserpavillon betrachtet Hering-Hagenbeck den Geparden durch das grüne Gitter. Die Katze putzt sich in ihrem Gehege, das ein bisschen nach einem zugewucherten Schrebergarten aussieht. „Schönbrunn ist tief in der Kultur der Stadt verwurzelt“, sagt der neue Direktor. „Wir müssen mit der Umgestaltung behutsam umgehen.“ Er spricht von „Landscape Immersion“, so nennt sich das, wenn man dem Besucher glauben machen will, sich in der natürlichen Umgebung des Tiers aufzuhalten.
Dazu bedarf es einiger architektonischer Kniffe: Steine oder Pflanzen als natürliche Begrenzungen, versteckte Gräben, verschlungene Pfade. Der Hagenbeck’schen Idee sind da alle Gitter und Wände im Weg. Aber das sei eher das Problem unseres ästhetischen Empfindens, sagt er, nicht das Problem des Tieres. „Wir schaffen mehr Platz, wir bieten Verstecke, wir setzen naturnah um und versuchen, unseren Besuchern die Zusammenhänge des Lebens so besser begreifbar zu machen.“
Wie bei der Eisbärenwelt, wo die Leute über mehrere Terrassen Bärenmama Nora und ihr Jungtier beobachten können. Oder auch mal minutenlang gar nichts sehen, wenn die beiden sich vor den neugierigen Blicken verstecken. Die Verweildauer vor den Gehegen ist eine wichtige Währung in der Zooplanung. Die Menschen sollen sich Zeit nehmen für ihren Besuch, sagt Hering-Hagenbeck. Sie sollen suchen, entdecken und dabei auch noch etwas lernen, über den Umgang mit der Natur, und was wir dem Planeten antun.
So verwandeln sich die Zoos gerade in irgendetwas zwischen Freizeitpark und Schutzstation. Nicht nur in Wien und Leipzig ist das so, sondern überall, wo sich Zoos ein teures Makeover leisten können. Im Tierpark Berlin entsteht in den nächsten zwei Jahren eine riesige Elefantenanlage, direkt daneben wurde gerade das alte Alfred-Brehm-Haus neu eröffnet. Die ehemalige Tropenhalle ist nun ein Regenwald, in dem man nicht nur Tiere angucken kann, sondern auch etwas über bedrohte Lebensräume, Rodungen und Palmölplantagen lernen soll. Und der Zoo Krefeld plant nach einer Brandkatastrophe zu Silvester einen Affenpark, in dem sich alles um den Artenschutz dreht, während Hannover fortwährend seine Afrikalandschaft erweitert, wo man die Flusspferde, Antilopen und Marabus vom Boot aus beobachten kann.
Wir gehen also künftig mehr auf Safari als in einen Zoo und wollen dort echte, gesunde und glückliche Tiere erleben, sofern das in menschlicher Obhut überhaupt möglich ist. In echter, natürlicher Umgebung, aber ohne dänische Grausamkeiten, versteht sich. Ach, wie sehr sind wir doch von den Tieren abhängig, die uns als Nahrungsquelle, Kleiderspende, Kuschelersatz und Entertainer dienen. Manche Menschen meinen, es sei unser gutes Recht, sie als Ressource zu nutzen, andere sagen, wir haben überhaupt kein Recht dazu. Die meisten aber sehen einen gewissen Spielraum darin, wann es okay ist, sie zu halten, und wann nicht. Dass es dabei oft mehr um unsere eigenen Bedürfnisse als um die Bedürfnisse des Tiers geht, wird da gern mal übersehen.
Wie man Wildtiere korrekt halten soll, beschreibt der Weltverband der Zoos und Aquarien in seiner Tierschutzstrategie. Der Kern der Strategie ist ein Modell, demzufolge sich die vier physischen Faktoren „Ernährung“, „Umwelt“, „Gesundheit“ und „Verhalten“ auf den fünften Faktor, den mentalen Zustand, das Wohlbefinden des Tiers auswirken.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
„Die modernen Zoos, die Erfahrung mit Wildtieren haben, mit der Forschung zusammenarbeiten und über das nötige Geld verfügen, machen ihren Job in vielen Bereichen gut. Alles andere wäre auch nicht wirtschaftlich, weil der aufgeklärte Zoobesucher entsprechende Erwartungen hat“, sagt James Brückner vom Deutschen Tierschutzbund. Aber: „Trotzdem gibt es in jedem Zoo viel zu verbessern.“ Immerhin würden sich die Zoos unter dem Dach des Verbands der Zoologischen Gärten (VdZ) an die Mindestanforderungen halten, die Medizin und Tierpflege gemeinsam mit dem Tierschutzbund erarbeitet haben. Die vielen hundert deutschen Einrichtungen jenseits der 71 VdZ-Zoos täten hoffentlich dasselbe.
Natürlich gebe es unterschiedliche Auffassungen darüber, was die fünf Faktoren der Tierschutzstrategie in der alltäglichen Praxis genau bedeuten, räumt der Tierschutzexperte ein. So würden Fachleute etwa darüber streiten, ob Vögel darunter leiden, wenn man ihnen die Federn stutzt. Eine bei Flamingos, Pelikanen, Kranichen, Gänsen und Enten durchaus übliche Praxis, bei der die Schwungfedern zweimal im Jahr einseitig an einem Flügel gekürzt werden, erzählt Brückner. Dadurch fliege der Vogel so schief, dass er lieber gleich am Boden bleibe. Wie sehr ihn das in seiner Lebensweise einschränkt, versuchen Studien gerade zu beantworten, aus Sicht des Tierschutzbunds ist diese Form der Haltung inakzeptabel.
Problematisch sei früher auch die Elefantenhaltung gewesen, sagt Brückner. Denn die Dickhäuter seien meist aus mehreren Herden zusammengewürfelt worden und hätten deshalb einen menschlichen Chef gebraucht – der sich mit einem Elefantenhaken durchsetzte. Heute hätten sich die meisten Zoos zum Glück auf den geschützten Kontakt verständigt, die Pfleger arbeiteten nicht mehr im Gehege, sondern auf der anderen Seite der massiven Gitterstäbe.
Aber natürlich ist da noch die Platzfrage. Ein Löwe auf der Jagd streift kilometerweit durch die Savanne, hat er seine Beute gefangen, bewegt er sich keinen Zentimeter mehr von ihr weg. Würde er auch ohne Hunger umherlaufen, einfach, weil er so gern spazieren geht? Katzen sind energieeffizient, jenseits des Fressens verschlafen sie den Tag, die Großen in der Wildnis unter den Bäumen, die Kleinen daheim auf der Fensterbank.
Wie viel Platz also braucht ein Tier in Gefangenschaft? „Es gibt Studien dazu, wann Tiere verhaltensauffällig werden“, sagt Brückner. „Bei Großkatzen gelten Gehege unter 500 Quadratmetern als problematisch, allerdings stammen die Untersuchungen meist von den Zoos selbst und sind damit wenig kritisch.“
Alles wäre leichter, wenn wir das Tier selbst fragen könnten, aber das geht natürlich nicht, und ohne tierische Antwort beginnen wir, Analogien zwischen Mensch und Tier herzustellen. Wir beurteilen es nach unseren Maßstäben, verleihen ihm menschliche Züge, denn andere kennen wir nicht. Bei den deutschlandweit rund 45 Millionen Zoobesuchen im Jahr fragen wir uns hin und wieder, ob sich die Zootiere vielleicht gefangen oder begafft fühlen, ob sie sich nach Freiheit sehnen, ob sie vermissen, ob sie trauern. Wir schauen in ihre Augen, versuchen, uns selbst darin zu erkennen – und scheitern.
Aber vermutlich ist es gerade diese fehlgeleitete Identifikation mit dem Zootier, die ein viel größeres Verständnis für seine Bedürfnisse hervorzurufen vermag, als es all die pädagogischen Angebote eines modernen Zoos mit seinen Schautafeln und Lernboxen, kommentierten Fütterungen und Unterrichtseinheiten je könnten.
Wenn überhaupt. Tierschutzexperte Brückner bezweifelt, dass da wirklich etwas hängen bleibt. „Der Großteil der Besucher interessiert sich nicht für Hintergründe“, sagt er. Keine Untersuchung habe bisher gezeigt, dass jemand nach einem Zooausflug sein Leben änderte. Vielmehr würde der Besucher im Durchschnitt weniger als eine Minute vor einem Gehege verweilen, viel Zeit zum Lesen bleibe da nicht.
Im Leipziger Zoo steht ein Ehepaar deutlich länger als eine Minute vor dem Gemeinschaftsgehege von Nashorn und Gepard. Allerdings nicht, um die Infotafel zu studieren, sondern weil es auf den perfekten Selfiemoment mit den Tieren wartet.
Dann fragt die Frau Jörg Junhold, ob sich das Nashorn denn mit den Geparden vertrage, man würde ja gar keine Zäune sehen. Der nickt und antwortet im besten Zoodirektordeutsch: „Vergesellschaftung fördert das Wohlbefinden der Tiere. Es ist neben Spielen und Futterverstecken eine von vielen Möglichkeiten der Beschäftigung.“ Deshalb setzt es sich auch immer mehr durch, zwei oder mehrere Tierarten in einem Gehege zu halten. In Leipzig teilen sich unter anderem Giraffen, Zebras, Antilopen und Strauße die Kiwara-Savanne und die Löffler, Sichler und Flamingos die Lagune.
Auch in Odense wurde vergesellschaftet, allerdings nicht ohne bösen Zwischenfall. Nachdem sich der dänische Zoo 2011 dazu entschieden hatte, überhaupt keine Vögel mehr zu beschneiden, hatte er mehrere Vogelarten in einem Fluggehege untergebracht. Als Erstes gingen die Seriemas auf die Scharlachibisse los – schlussendlich musste sich der Tierpark von einigen Arten trennen. Und wirklich fliegen wollten die übrigen Vögel bis heute nicht, erzählt Direktor Bjarne Klausen während des Besuchs. Nur die Pelikane drehten jeden Morgen eine kleine Runde, die Flamingos würden sich die Mühe gar nicht erst machen.
Eine Gruppe besorgter Kinder bittet Klausen, ob er mal drüben ins Oceaneum gucken könne. Ein Pinguin sehe so aus, als seien seine Füße auf dem Eis festgefroren. Klausen schmunzelt, geht aber trotzdem gucken. Er trabt durch die Moorlandschaft über den Holzsteg, vorbei an einem Insektenhotel. Tiger Boris hat von seiner Ziege nicht viel übrig gelassen, ein roter Kater am Wegesrand beobachtet die Giraffen.
Giraffe, Zoo, Dänemark – war da nicht was? 2014 empörte der Kopenhagener Zoo die Welt, als er den gesunden Giraffenbullen Marius aus Platzmangel erschoss und verfütterte. Die sozialen Netzwerke rasteten aus, die Zooleitung bekam Morddrohungen. In Odense war kurz zuvor ein Löwe getötet und vor Publikum zerteilt worden. Groß aufgeregt hatte sich niemand. „Kopenhagen hat den Fehler gemacht, an die Öffentlichkeit zu gehen, als Marius noch gelebt hat“, sagt Klausen. Außerdem habe man der Giraffe einen Namen gegeben, das hätte bei den Leuten Gefühle geweckt.
Auch jetzt liegt wieder ein toter Löwe im Kühlfach in Odense. „Er hat die Jungtiere angegriffen und wurde immer aggressiver“, nennt Klausen als Grund. In der Natur wäre er deshalb verstoßen worden, im Zoo hat man ihn aus mangelndem Platz und fehlender Vermittlungsmöglichkeit nun umgebracht. Und er ist nur einer von vielen getöteten Zootieren in Dänemark. Seit Jahrzehnten schneiden dänische Tiermediziner die Bäuche toter Raubkatzen, Gazellen, Tapire und Kamele auf, versenken ihre Arme in Darmschlingen und halten Organe in die Luft, während sich Schulkinder die Nase zuhalten und erblassen.
Was in Dänemark als Anschauungsunterricht gilt, ist in Deutschland unvorstellbar. Den meisten hierzulande wäre vermutlich schon eine vom Baum hängende Ziege zu viel, die von einem Tiger zerfetzt wird. Das „Ob“ und „Wie“ von Tierhaltung berührt unser ethisches Empfinden, es ist ein ständiges Abwägen von Argumenten, die emotional aufgeladen sind. Wenn wir uns gegen die Nutzbarmachung von Tieren positionieren, können wir uns moralisch überlegen fühlen. Wir achten Tiere, um Menschen zu ächten: all die Jäger und Kammerjägerinnen, die Grillmeister, Lederfans, Zirkusgänger, Angelfreunde, Reitsportler und Kaninchenzüchter.
Nur sind unsere Standpunkte selten logisch oder konsequent. Wenn wir zwischen niedlichen und weniger niedlichen Tieren unterscheiden zum Beispiel. Oder zwischen Tieren, die wir essen und die wir nicht essen. Oder wenn wir festlegen, wie viel Natur wir tatsächlich vertragen: Natur ja, aber bitte ohne Kämpfe, Hunger, Krankheit und Tod, die unseren romantischen Vorstellungen widersprechen. Letzten Endes wollen wir nur eine schöne Inszenierung sehen – und die Tiere baden das aus. Sollten wir deshalb nicht besser gleich alle Zoos abschaffen?
Kommt darauf an, ob man zoologische Gärten als Arche oder als Titanic betrachtet. Der Zoologische Garten Berlin ist der älteste Zoo Deutschlands – und der artenreichste der Welt. Schon 1844 wurden hier wilde Tiere gehalten, erst in Massen und mit wenig Erfahrung, dann mit besseren Kenntnissen. Doch auch in Berlin geht der Trend zu mehr Platz. Nach und nach werden versiegelte Flächen geöffnet, Gitter abgebaut und Arten abgegeben, ein paar Vögel und Fische weniger werden die Gäste schon verschmerzen können.
Unter der Leitung von Andreas Knieriem wurden in den vergangenen Jahren etliche Anlagen saniert oder werden gerade neu gebaut: im Zoo der Adlerfelsen, die neue Pandaanlage, aktuell das Raubtierhaus. Im Tierpark, für den Knieriem ebenfalls verantwortlich ist, die Dschungelwelt im Alfred-Brehm-Haus, die Elefantenanlage und bald eine riesige Vogelvoliere.
An diesem Tag steht der Zoodirektor vor dem Bärenfelsen im Tierpark in Berlin-Friedrichsfelde, wo Eisbärmädchen Hertha mit einer Boje im Schwimmbecken kämpft. „Sie ist jetzt schon zwei Jahre alt und spielt immer noch“, erzählt Knieriem und freut sich. Hertha und ihre Mutter Tonja würden gut fressen und viel schlafen, alles Anzeichen dafür, dass sie sich wohlfühlten. „Bei uns soll es den Tieren gutgehen. Wir wollen Bewunderung für sie wecken, kein Mitleid“, sagt er. „Mitleid brauchen die Wildtiere, die gerade ihren Lebensraum verlieren.“
Hertha wird die Hauptstadt übrigens bald verlassen. Das länderübergreifende Erhaltungszuchtprogramm des europäischen Zooverbands EAZA wird die Bärin an einen anderen Zoo vermitteln, damit sie sich dort paart und Junge bekommt. Dann könnte auch Vater Wolodja nach Friedrichsfelde zurückkehren und mit Tonja für den nächsten Eisbärbabyhype sorgen.
An die 300 Zoos sind im EAZA vernetzt, um bedrohte Tierarten zu züchten und Lebensräume zu schützen. Durch die Zusammenarbeit soll der Genpool besser durchmischt werden, mit mehr Forschung und ohne Wildfang, der seit den Siebzigerjahren durch das Washingtoner Artenschutzübereinkommen verboten ist, zumindest was Säugetiere angeht. Um die 150 Arten will die EAZA durch koordinierte Zucht gerade erhalten, geklappt hat das unter anderem bei Wisent, Säbelantilope, Löwenäffchen, Riesenotter, Sumpfschildkröte und Przewalski-Pferd.
Klingt viel, ist aber ganz schön wenig, verglichen mit den geschätzten 100 Tierarten, die jeden Tag aussterben. Vier Millionen Euro stecken die Zoos des Verbands der Zoologischen Gärten jährlich in Artenschutzprojekte, weltweit sind es knapp 300 Millionen – da ist Luft nach oben. „Lange Zeit hatten wir keinen finanziellen Spielraum über die Grenzen unserer Gehege hinaus“, sagt Andreas Knieriem. „Inzwischen investieren wir in deutlich mehr Artenschutzprojekte, aber wir brauchen Zeit.“ Mittlerweile beteilige sich sein Zoo zumindest an den Erhaltungsprogrammen bedrohter Tiere, die auch in Berlin gezeigt werden: Knapp 1.400 Arten mit insgesamt 20.000 Tieren beherbergen Zoo und Tierpark zusammen, mehr als ein Drittel gilt als bedroht.
In der freien Natur leben überhaupt nur noch 4 Prozent aller Säugetiere und ein Drittel aller Vögel, den Rest hält der Mensch im Stall, auf der Weide, zu Hause oder im Wald – und eben in den zoologischen Gärten. Wenn wir die Zoos abschaffen, retten wir nicht die Tiere, sondern höchstens unsere Moral.
„Tierarten lassen sich nur noch bewahren, indem der Tierschutz eingreift“, sagt auch Zoodirektor Knieriem. Und das passiert bei wilden Tieren nun mal vorwiegend im Zoo. Jenseits davon haben sie meistens keinen Platz mehr, den braucht der Mensch für seine Städte, Felder und Müllhalden.
So unromantisch es auch klingt: Ohne den Menschen wird sich die Tierwelt nicht mehr vom Menschen erholen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland