Neue Netflix-Serie „Ratched“: Bunt, aber monoton
Die Netflix-Serie „Ratched“ über eine sadistische Krankenschwester ist bunt und queer. Leider dominieren die Psychiatrie-Klischees.
Mildred Ratched ist bekannt als eines der größten Biester der Filmgeschichte. Selbst wer ihren Namen nicht kennt, erinnert sich vielleicht an die böse Krankenschwester aus „Einer flog über das Kuckucksnest“. An ihren kalten, starren Blick, das strenge weiße Häubchen, vielleicht sogar an den großen Schlüsselbund, den sie um ihren Arm trägt. Und an den Sadismus, mit dem sie Jack Nicholson und die anderen Patienten, alles Männer, im Zaum hielt.
Dass sich nun ausgerechnet Netflix ihrer Vorgeschichte annimmt, verwundert nicht. Das Streaming-Unternehmen setzt mit Sequels und Prequels (zuletzt „Der junge Wallander“), mit Remakes (demnächst „Rebecca“) und Franchise-Fortsetzungen (demnächst „Resident Evil“) mit zuverlässiger Regelmäßigkeit auf bereits etabliertes Material.
In den meisten Fällen erweisen sich solche Projekte als liebloser Versuch, mehr Abonnent*innen zu generieren. Da sich Serien-Mastermind Ryan Murphy aber des Stoffes annahm, war schon anzunehmen, dass „Ratched“ weder eine Produktion von der Stange werden noch dass seine Protagonistin auf das misogyne Stereotyp der Hure oder eben des Biests reduziert bleiben würde.
Und tatsächlich ist Mildred Ratched (Sarah Paulson), die das Prequel fünfzehn Jahre vor der Handlung der Vorlage zeigt, nicht nur manipulativ, herrisch und skrupellos, sondern auch empfindsam, liebevoll und couragiert.
Gerade im nordkalifornischen Lucia angekommen, erschleicht sie sich 1947 eine Stelle als Krankenschwester in einer psychiatrischen Anstalt. Kurz zuvor wurde der junge Edmund (Finn Wittrock) dort eingeliefert, nachdem er mehrere Priester massakriert hatte.
Von kaltblütig bis edelmütig
Offensichtlich hat Ratched ein Interesse daran, auf die Beurteilung seines Geisteszustandes, die über seine mögliche Hinrichtung entscheidet, Einfluss zu nehmen. Ein Interesse, das so groß ist, dass sie bereit ist, dafür reuelos Patienten in den Selbstmord zu treiben oder in Eigenregie Lobotomien durchzuführen.
Während der Leiter der Anstalt, Dr. Hanover (Jon Jon Briones), wegen pikanter Geheimnisse aus seiner Vergangenheit bald in ihre Abhängigkeit gerät, schwingt sich Oberschwester Betsy Bucket (Judy Davis) zur Antagonistin auf.
Die Kaltblütigkeit, die sie auch ihnen gegenüber an den Tag legt, wechselt sich wild mit edelmütiger Fürsorge gegenüber einem schüchternen Kollegen (Charlie Carver) und einigen Patientinnen ab, die sie vor der qualvollen Hydrotherapie retten möchte. Ihr Verhalten ändert sich kontinuierlich, ohne zufriedenstellende Erklärung. An dieser Widersprüchlichkeit der Hauptfigur krankt die gesamte Serie.
Wahrscheinlich wäre „Ratched“ ohne den Zwang, anschlussfähig zu sein, eine bessere Serie geworden
Der Mangel an Stringenz hat mit der Unentschlossenheit von „Ratched“ zutun. Die Serie kann sich nie zwischen dem absoluten Gewaltexzess, der kurioseren Darstellung psychischer Krankheit und überzeichneter Figuren einerseits und dem Versuch einer halbwegs realistischen Darstellung psychiatrischer Einrichtungen und lebensnaher Charaktere entscheiden.
Wahrscheinlich wäre „Ratched“ ohne den Zwang, anschlussfähig zu sein, eine bessere Serie geworden. Vielleicht wäre dann die bewährte Murphy-Trias eines Figurenkabinetts aus Weirdos, Creeps und sonstigen Außenseiter*innen, einer atemberaubenden visuellen Pracht und einem herrlich diversen Cast – wie bei „American Horror Story“ oder zuletzt „Hollywood“ – aufgegangen.
Mehr Kuriositätenschau als authentisches Chaos
All das bringt auch „Ratched“ mit: Judy Davis schließt sich mit Freundin Amanda Plummer zusammen, um gegen Ratched zu taktieren, Sharon Stone darf als rachsüchtige Millionärswitwe mit Äffchen auf der Schulter auflaufen und Sarah Paulson wird eine lesbische Liaison mit der großartig-dandyhaften Cynthia Nixon zugestanden.
Alles Frauen, die in Hollywood wegen ihres Alters in der Regel nur noch wenige bis keine Angebote erwarten, dürfen vor bestechend ästhetischer Kulisse in queere Rollen schlüpfen. Während sich das dekadente Spektakel sonst zu einem stimmigen Gesamtkonzept mit einer gewissen Aussage über den Zeitgeists zusammenfügt, bleibt der Plot bis zum Schluss ein loses Nebeneinander von Schönheit und Schrecken. Das hat vor dem Setting der psychiatrischen Anstalt einen unangenehmen Beigeschmack von Kuriositätenschau.
„Ratched“ ist im Rahmen des fünfjährigen, 300 Millionen Dollar schweren Deals zwischen dem Streaming-Giganten und dem Regisseur Ryan Murphy entstanden, aus dem allein 2020 nicht weniger als sieben Produktionen hervorgehen.
Bleibt zu hoffen, dass nicht ausgerechnet eine der innovativsten queeren Regie-, Autoren-, und Produzenten-Ikonen gerade auf Fließbandarbeit umsteigt.
Leser*innenkommentare
Pace#
taz Widerspruch, einfach .. gut . sic
Dysfunctional
Also ich find die Serie toll, angenehm und sehr interessant. Horror seh ich da eher weniger, teils waren die Dinge ja mal so also von daher. Ich mag sie sehr gern und freu mich über hoffentlich Staffel 2
Yodel Diplom
Was die Serie sehenswert macht ist die gezeigte Schauspielkunst. Allen voran Sarah Paulsons. Und das Drumherum ist wunderschön, optisch ist hier echt nicht mehr zu wollen.
Ansonsten stimme ich sämtlichen Kritikpunkten zu und möchte einen weiteren anbringen: Das Staffelfinale war doch sehr antiklimaktisch. Der "Cliffhanger" war reichlich lahm. Da hatte ich deutlich mehr erwartet.
Im großen und Ganzen habe ich mich allerdings schon ganz gut unterhalten gefühlt, auch wenn ich Staffel 2 jetzt nicht so richtig entgegenfieber.
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Gast
Die Kritikpunkte stimmen schon alle. Ich würde aber anfügen, dass alles das was die Kostümbildner und Setbuilder da hingestellt haben und wie die Kameraleute das eingefangen haben, die Serie dann doch irgendwie sehenswert macht. Also wenn man es unter Malerei einsortiert ist es richtig gut!