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„Die Blaupause ist immer Umverteilung“

Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband sagt, warum die Kinderarmut nicht zurückgeht – und was getan werden müsste, damit dies endlich geschieht

Mühlheim an der Ruhr, 2018 Foto: Harald Hoffmann

Interview Lotta Drügemöller

taz: Herr Schneider, wann erwarten Sie den ersten Bericht, der sagt, Kinderarmut sei signifikant gesunken?

Ulrich Schneider: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Das klingt nicht, als ob es unmittelbar bevorstünde...

Der Paritätische macht seit 30 Jahren massiv Lobby zur Bekämpfung von Armut. Man weiß nicht, was alles eingerissen worden wäre, wenn es diese Arbeit nicht gegeben hätte. Aber manchmal fühlt sich alles recht erfolglos an. Es gibt keine Kindergrundsicherung und keine wirklich inklusiven Schulsysteme – der Leistungserfolg von Kindern hängt immer noch extrem von der Herkunft ab. Die Interessen von Arbeitslosen und armen Menschen gelten nichts.

Aber bei Kinderarmut sind sich doch alle einig – die will keiner

Arme Kinder können das Herz rühren und zum Spenden verleiten, sie helfen, mit guten Taten das Gewissen zu erleichtern. Aber in den ganzen letzten Jahrzehnten konnte sich keine gute Politik zur Bekämpfung von Kinderarmut in den Parlamenten durchsetzen.

Naja, es gibt Kindergeld, Elterngeld, jetzt zum 1. August wird das Bildungs- und Teilhabepaket verbessert…

Rein zahlenmäßig gibt es eine ganze Menge Programme. „Schau, was wir alles machen“, sagen Politiker damit. Aber die Programme sind allesamt halbherzig, kleinmütig, es sind Trippelschritte, die keinen Effekt haben. Nehmen wir mal die Teilhabegutscheine: Statt zehn Euro gibt es jetzt 15 Euro im Monat. Dieser Gutschein wurde mal so angekündigt, dass Kinder davon Klavierunterricht nehmen sollen, in Vereine gehen oder auf Pfadfinderfahrten. Bestenfalls ist das ein schlechter Witz, jeder weiß, dass das hinten und vorne nicht reichen kann. Die traurige Wahrheit ist, dass es so keine Teilhabe für arme Kinder geben kann. Da helfen die ganzen Nebelkerzen nicht.

Wir reden immer über Kinderarmut. Was ist der Unterschied zu anderer Armut?

Kinder sind jünger, das ist vielleicht ein Unterschied. Sie sind im Sozialisationsprozess begriffen. Die Sicht auf die Gesellschaft und den eigenen Platz darin wird in dieser Zeit geprägt. Wenn ich in den ersten Jahren mitbekomme, dass meine Eltern sich ein Bein ausreißen können und trotzdem auf keinen grünen Zweig kommen, dann wird das nicht für Lebensmut sorgen, nicht für das Gefühl, dazu zu gehören. Das ist vielleicht das Besondere an Kinderarmut. Eigentlich­ gibt es aber gar keine armen Kinder. Es gibt nur arme Familien. Die Kinder gegen ihre Familien auszuspielen bringt nichts.

Was meinen Sie damit?

Es wird von bildungsarmen Haushalten geredet, da sind die Kinder dann die „armen Kinder“, die unter solchen Bedingungen leben müssen. Und es gibt die Unterstellung, Leistung für Kinder käme nicht bei den Kindern an. Zur Jahrtausendwende war die Stimmung glatt so, dass man dachte, die wollen die Kinder am liebsten aus den Familien entfernen. Es bestehen extreme Vorurteile gegenüber Armen und Arbeitslosen in Deutschland. Das ist eine Verdrehung von Tatsachen, wenn man sieht, wie viele arme Familien, wie viele arme Alleinerziehende sich für ihre Kinder aufopfern.

Ehrlich gesagt wollte ich Sie fragen, wie man dafür sorgen kann, dass die Leistungen bei Kindern ankommen…

Sie können gar nicht dafür sorgen. Die Kinder haben eine Familie, und die muss mit dem Budget hinkommen. Ob diese paar Euro dann eins zu eins bei einem Kind ankommen, ist nicht entscheidend. Was Kinder brauchen, ist eine insgesamt angstfreie Familienatmosphäre. Der Gedanke, den Eltern­ könne man nicht trauen, führt zu dem Schwachsinn, Familien mit Kindern Gutscheine zur Teilhabe auszuteilen. Was erwarten die? Dass das Kind mit dem Gutschein in der Hand zum Jugendzentrum geht und sich dort Angebote kauft? So funktioniert Jugendarbeit nicht.

Was muss getan werden, damit Familien mehr Geld in der Tasche haben?

Zunächst mal muss man für gute Löhne sorgen und für Beschäftigung für all jene, die arbeiten wollen, also die allermeisten. Wenn es die Jobs nicht gibt, muss das eben über öffentliche Beschäftigung gehen. Und wenn Alleinerziehende oder andere in einer Familienphase mal nicht arbeiten können, muss man das auch akzeptieren und ausgleichen. Familiengeld, eine Kindergrundsicherung, müssten ausgezahlt werden.

Foto: dpa

Ulrich Schneider, 62, ist Erziehungswissenschaftler und seit 1999 Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Er ist Autor mehrerer Bücher über Armut in Deutschland.

An wie viel Geld denken Sie?

Je nachdem, wie viel man noch nebenbei verdienen kann, sind das für Kinder zwischen 450 und 600 Euro. Und für Erwachsene müsste die Leistung bei eingeschränkter Erwerbstätigkeit eben auch bei bis zu 600 und 900 Euro liegen.

Das ist eine ganz schöne Stange…

Nee, ist es nicht. Früher habe ich auch mal gedacht, zehn Milliarden Euro seien viel Geld. Aber offensichtlich ist das gar nichts.

Und, werden wir irgendwann mal den Bericht „Kinderarmut abgeschafft“ lesen?

Das wäre nur vorstellbar, wenn es eine Politik der Umverteilung gäbe. Jemand, der erklärt, er will alle Kinder mitnehmen, aber um Himmels willen keine Spitzensteuersätze erhöhen – entweder blickt der es nicht, oder er ist böswillig. Die Blaupause ist immer Umverteilung, ein System mit einer vernünftigen Steuerpolitik, ein System, das Solidarität einfordert, das obszönen Reichtum belastet, das Ansprüche erhebt an Reiche und Superreiche. So pessimistisch bin ich gar nicht, dass das mit der richtigen Koalition ginge. Schauen wir mal, was die nächste Legislatur bringt. Da könnte man steuerpolitisch doch schon ein Fundament schaffen.

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