Spielfreude am Göttinger Theater: Europa als Lachnummer

Als erstes Stadttheater im Norden bespielt Göttingen wieder sein großes Haus. Zu sehen ist eine Adaption des absurden EU-Romans „Die Hauptstadt“.

Schauspieler mit Masken, die gestaltet sind wie Corona-Viren.

Wirken deplatziert: Personifizierte Coronaviren im Deutschen Theater Göttingen Foto: Axel J. Scherer

GÖTTINGEN taz | Die Europäische Kommission: tapfere EU-Regierung oder anonymer Moloch einer bürgerfernen Zentralgewalt mit dadaistischem Verordnungswahn? EU-Bürger scheinen einen anfänglich noch postulierten Enthusiasmus für den europäischen Geist in müde Gleichgültigkeit verwandelt zu haben, die auch immer wieder in radikale Skepsis kippt – bis hin zur Feindschaft. Die EU droht zu zerbröseln im Kampf nationaler Interessen, um nicht zu sagen: Egoismen. Ein „Ende der Weinerlichkeit“ fordert da eine Rundmail. Es müsse darum gehen, die Aufgaben und Leistungen der Kommission „in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu stellen, ihre Corporate Identity zu stärken, ihr Image zu verbessern“.

Das ist der Ausgangspunkt in Robert Menasses mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichneten Roman „Die Hauptstadt“. In der Folge entblößt sich die durchhie­rarchisierte Brüsseler Bürokratie in höchst komödiantischen Situationen zur Kenntlichkeit – aller Halb- und Inkompetenz der Verantwortlichen zum Trotz gelingt dem Romancier aber eine forsche Hommage an die EU, was er mit fulminanten Fan-Gesängen in Essayform begleitet hat.

Nun ist die Mail auch Auslöser einer Revue des Stoffes am Deutschen Theater Göttingen. Das erste und einzige Stadttheater im Norden Deutschlands, das sein großes Haus noch vor der Sommerpause wieder öffnet und ein kleines Repertoire coronakrisenbedingt überarbeiteter Inszenierungen zeigt – und eine eigene „Hauptstadt“-Dramatisierung Premiere feiern lässt.

Schon mit Open-Air-Aufführungen auf dem Parkdeck und Drive-in-Theater in der Tiefgarage gingen die Göttinger mit kompletten Inszenierungen vors Publikum, während andere Häuser Kleinkunstformate und musikalische Beiprogramme im Theaterhof anboten.

Die Aufführung geht spaßig in die Vollen, gerät inhaltlich und ästhetisch ziemlich aus den Fugen und verfehlt ihr Thema mit all dem Jux und der Dollerei

Auch das Saisonfinale ist bestens organisiert. Im schmucken Neorenaissance-Palast dürfen Menschen einander nicht begegnen, daher versammeln sie sich davor wie einst im Foyer. Natürlich dauert es, bis alle ­Adressen der Besucher erfasst und jeder per Einzelaufruf eingelassen ist, erst die mittig Sitzenden, zuletzt die Randhocker. Aber die Aufführung beginnt pünktlich. Jede zweite Reihe ist leer, stets drei Sitze bleiben unbesetzt zwischen den Zuschauern. So sorgen gerade mal 104 Ticketinhaber für „ausverkauft“ im 496-Plätze-Saal. Die große Leere sorgt für beste Sicht auf die Bühne, wirkt aber auch etwas beklemmend.

Dagegen an rocken eine polterig-lässig schlagzeugende Minimalistin und ein Gitarrist mit voll tönend rauen Riffs in angemessener Lautstärke. Dazu tanzt Felicitas Madl im Schweinekostüm mit Tutu auf Spitze. Menasse lässt ein Borstenvieh durch Brüssel irrlichtern, so verbindet er seine Handlungsorte. Auf der Bühne taucht das Schwein fortan nur in Erzählungen auf, ist wie zu vieles an diesem Abend nur da, um auch erwähnt, aber nicht ausformuliert zu werden. Zum Finale aber fliegt es eindrucksvoll gen Bühnenhimmel, woraufhin die Protagonisten einem Terroranschlag zum Opfer fallen. Schweinerei.

Regisseur Niklas Ritter bietet die zerhackten Geschichten der Hauptstadt-Geschichte als Collage von Kurzszenen dar, aber ohne dramaturgischen Bogenschlag, mit dem die Handlungsstränge und Motivsträhnen ineinander verknäult werden könnten. Immerhin gibt es einen verschwörungstheoretischen Krimi-Plot, in dem die Nato sich des Auftragskillers einer polnischen Vatikan-Dependance bedient. Intriganten-Stadl-Szenen sind zu verarbeiten, Sexgeschichten einsamer Büromenschen, ein Liebessehnsuchtsmonolog, der Disput über die Ökonomie der Schweinezucht und die Außenseitergeschichte eines kranken Kriminalkommissars. Und ein störrischer alter Überlebender eines KZ ist nun der Demenz und Seniorenheimritualen ausgeliefert.

Bei Menasse sind alle Figuren ironisch pointiert bis satirisch überzeichnet, aber auch psychologisch ausgeleuchtet sowie in die historischen Abgründe und Aufschwünge ihrer EU-Herkunftsländer verwoben, sodass ihr Verhalten nachvollziehbar wird. So entsteht das Alltagspanorama einer Institution, sie erscheint als lebendiger, allzu menschlicher Organismus. Auf der Bühne verhindert aber immer wieder überbordender Comedy-Wille den Abgleich des EU-Idealismus mit der EU-Realität.

Bleibt Menasses Hohelied. Gesäumt von behäbigen Beamten und zynischen Lobbyisten, ambitionierten Wissenschaftlern und ränkespielenden Vorgesetzten steht im Mittelpunkt der Aufführung die zypriotische Karrieristin Fenia, ein Mitarbeiter soll ihr ein PR-Projekt konzeptionieren, mit dem sich die Chefin für höhere Aufgaben empfehlen will.

Der Hinterzimmer-Typ sieht seine Chance und propagiert den Holocaust als Gründungsmythos der EU. Nichts habe eine so fundamentale Gemeinsamkeit geschaffen wie die Erfahrung von Auschwitz. Diese Einigkeit hätte das Projekt Europa, die Überwindung des Nationalgefühls, erst möglich gemacht: „Wir sind die Hüter dieser Idee und unsere Zeugen sind die Überlebenden von Auschwitz.“

„Die Hauptstadt“: Deutsches Theater Göttingen. Das Stück ist in der nächsten Spielzeit ab 19. 9. wieder zu sehen

Also sollen sie nach Brüssel geladen werden, der Kommission ein Gesicht verleihen und eine supranationale Mission beglaubigen. Ein Professor Erhart plädiert als zweites Autor-Alter-Ego für eine nachnationale Gesellschaft, die europäische Republik – und ihre Hauptstadt soll in Auschwitz entstehen: „Gebaut als Stadt der Zukunft einerseits und andererseits als Stadt, die nie vergessen kann. Nie wieder Auschwitz ist das Fundament, auf dem das europäische Einigungswerk errichtet wurde.“

In der theatralen Diskussion in Göttingen rühren die lauschenden Mitarbeiter der Kommission nur mit einem Löffel in Espressotassen, machen „määhh“ und hecheln immer wieder „Wachstum“, wenn von der Zukunft der EU die Rede ist. Was bei Menasse noch farcenhaft frech wirkt, kommt hier albern daher. Wie auch Dialoge als Fechtduelle. Grenzwertig sogar, wie die tattrige Langsamkeit eines Altenheimbewohners zur großen Lachnummer ausgebaut wird.

Nicht weiter fallen hingegen die minutiös eingehaltenen Hygiene- und Abstandsregeln auf. Die Entfernung zwischen den Figuren auf der Bühne entspricht durchaus ihrer persönlichen Ferne. Dass kaum Requisiten genutzt werden, weil ein Objekt nicht von zwei Darstellenden berührt werden darf, erscheint nirgendwo als Mangel. Nur personifizierte Auftritte des Coronavirus wirken deplatziert, weil sie vom Europa-Sujet ablenken und nicht in die frühen 2000er-Jahre passen, in denen der Roman angesiedelt ist.

Mit all ihren Zutaten geht die Aufführung spaßig in die Vollen, gerät inhaltlich und ästhetisch ziemlich aus den Fugen und verfehlt ihr Thema mit all dem Jux und der Dollerei – reproduziert dabei sogar schlichte EU-Klischees. Diese Kritik wäre in präpandemischen Zeiten zu formulieren gewesen. Jetzt aber schreiben wir: Endlich wieder freigelassene Spielfreude triumphiert humorvoll über die kritische EU-Liebeserklärung.

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