Flüchtlinge aus Griechenland: Berlin will keine Festung sein

2.000 Flüchtlinge könnte Berlin aufnehmen. Nun sollen nur 100 Minderjährige kommen. Diejenigen, die 2015 halfen, als Behörden versagten, sind empört.

Seebrücke in Berlin: Menschen demonstrieren für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland. Auf einem Schild steht; "Open the Borders"

Tausende protestierten vergangenes Wochenende für die Öffnung der EU-Grenzen Foto: Christian Mang

BERLIN taz | Andreas Tölke von der Berliner Flüchtlingsinitiative Be An Angel spricht ruhig, obwohl er eigentlich wütend klingen müsste: „Die Schockstarre der Politik vor einem neuen 2015 und vor der AfD führt dazu, dass die Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden.“ Die in Europa verbindlichen Asylgesetze seien zu lange ignoriert worden, so Tölker: „Wir wissen seit mehreren Jahren um die Zustände in Moria und in Flüchtlingslagern an der EU-Außengrenze.“

Die rot-rot-grüne Berliner Landesregierung hatte angesichts der humanitären Katastrophe an der griechisch-türkischen Grenze und auf den griechischen Inseln dem Bund angeboten, Geflüchtete aufzunehmen. Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) sprach davon, das Berlin aus dem Stand 2.000 Geflüchtete aufnehmen könnte und die Kapazitäten erweiterbar seien. Ähnlich hatten 139 weitere Städte über die Aktion Sichere Häfen der sozialen Bewegung Seebrücke angeboten, direkt und unkompliziert helfen zu können.

Das, was die Bundesregierung dann im Koalitionsausschuss aushandelte, war angesichts dieser Hilfsbereitschaft nicht allzu viel: Deutschland wollte zwischen 1.000 und 1.500 minderjährigen Flüchtlingen von den griechischen Inseln aufnehmen, wenn sich in der EU eine „Koalition der Willigen“ finde, die bereit sei, das mitzutragen, wie es im Groko-Sprech hieß. Allein in Moria, dem wohl schlimmsten Lager auf Lesbos, leben über 20.000 Menschen unter unwürdigen Bedingungen.

Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte für Berlin die Aufnahme von 80 bis 100 minderjährigen Flüchtlingen in Aussicht gestellt und sagte angesichts der Einigung, er sei „stolz auf die Bundesregierung, dass diese humanitäre Entscheidung getroffen worden ist“. Tatsächlich entspricht die Zahl den verfügbaren Kapazitäten in Einrichtungen der Jugendhilfe, wie die Sozialverwaltung der taz am Dienstag mitteilte, wie sie für Minderjährige erforderlich sind.

Breitenbach kritisiert Bundesregierung

Senatorin Breitenbach forderte am Dienstag von der Bundesregierung mehr Aufnahmebereitschaft: „1.500 ist für Europa viel zu wenig. Es gibt weitere Geflüchtete, denen man helfen muss und denen wir auch helfen können“, sagte Breitenbach der taz, „dafür stehen in Berlin und anderen Kommunen ausreichend viele Plätze bereit. Wir wollen Verantwortung übernehmen.“

Andreas Tölke, Flüchtlingshelfer

„Kontrollverlust findet gerade auf griechischen Inseln statt“

Laut Sozialverwaltung könnten in die leer stehende Unterkunft Buchholzer Straße in Pankow sofort 400 Flüchtlinge einziehen. Ebenso habe man den Abbau der Container auf dem Tempelhofer Feld gestoppt. Dort könne man, „als Reserve – temporär und möglicherweise“, weitere 1.000 Menschen unterbringen, wie Sprecher Stefan Strauß sagte. Am Donnerstag auf der Ministerpräsidenten-Konferenz werde es erneut Thema sein, hieß es.

Der Flüchtlingshelfer Andreas Tölke war vor Kurzem im Lager von Moria. Er sagt zu den Maßnahmen: „Das ist nur Kosmetik.“ Zwar sei er froh über jeden, der gerettet werde. Aber es sei nicht nachvollziehbar, dass so vielen Menschen der Antrag auf Asyl selbst innerhalb der EU verweigert werde. „Warum führt die Panik vor der AfD und einem zweiten 2015 dazu, dass wir die gültige Rechtslage nicht umsetzen?“, fragt er. Vor allem Konservative und Liberale warnen derzeit vor einem „erneuten Kon­trollverlust“ und bedienten sich dabei großzügig im Framing-Angebot der AfD.

Die Zahlen In Griechenland leben nach Angaben der UN-Flüchtlingshilfe UNHCR derzeit 115.600 Flüchtlinge und Asylsuchende. Davon sitzen laut dem Migrationsministerium Athen 42.000 Menschen auf den griechischen Ägäisinseln vor der türkischen Küste fest.

Die Neuankömmlinge Ein 2016 zwischen der EU und der Türkei geschlossenes Abkommen sieht vor, illegal in die EU eingereiste Menschen leichter wieder in die Türkei zurückschicken zu können. Trotz dieses Vertrags steigt die Zahl der ankommenden Schutzsuchenden. Im laufenden Jahr erreichten 3.948 Menschen von der Türkei kommend über das Meer die Inseln Lesbos, Samos, Chios und Kos. Zum Vergleich: Im Januar 2019 erreichten 1.850 Menschen die griechischen Inseln, in diesem Jahr waren es im Januar bereits 3.150.

Die Kinder 34 Prozent der insgesamt 42.000 Schutzsuchenden auf den Inseln sind Jugendliche und Kinder. Weit über die Hälfte von ihnen sind unter 12 Jahre alt. Etwa 14 Prozent der Minderjährigen sind ohne ihre Angehörigen unterwegs. Nach Angaben des UNHCR sind 10.850 der Minderjährigen im schulpflichtigem Alter. Weniger als drei Prozent von ihnen gehen zur Schule, da die Kapazitäten nicht ausreichen.

Die Lager Die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln sind längst nicht für so viele Menschen ausgerichtet. Am extremsten ist die Situation auf Lesbos. Das dort vom griechischen Staat betriebene Camp Moria hat eine Kapazität für etwa 3.000 Asylsuchende. Aktuell leben dort mehr als 21.000 Menschen. Zum Vergleich: Die Inselhauptstadt Mytilini hat eine Einwohnerzahl von 37.890. (taz)

Tölkes Perspektive auf 2015 ist dabei eine deutlich andere: „Kontrollverlust findet gerade auf griechischen Inseln und sämtlichen Lagern an der Grenze statt“, sagt er. Als Flüchtlingshelfer sieht er die Jahre 2015 und 2016, als Deutschland viele Geflüchtete aufnahm, deutlich anders. „Ja, es gab eine Überforderung der Behörden. Die aber wurde durch die Zivilbevölkerung abgepuffert. Bundesweit haben die Menschen sofort geholfen.“ Mittlerweile sind fast 50 Prozent der zwischen 2013 und 2018 nach Deutschland Gekommenen in Arbeit – der Trend übertreffe alle Erwartungen, findet Tölke. Für ihn steht das Jahr 2015 zuallererst für eine zivilgesellschaftliche Leistung: „Ich würde jetzt ungern Frau Merkel zitieren, aber inhaltlich hat sie mit ‚Wir schaffen das‘ recht.“

In ähnlicher Weise äußerten sich auch andere Hilfsorganisationen und nicht zuletzt die Seebrücke Berlin, die am Montag eine Kundgebung dazu veranstaltete. Tölke plant derzeit zusammen mit einer NGO in Moria ein Büro, das Flüchtlingen helfen soll, ihnen zustehenden Familiennachzug nach Deutschland zu beantragen. Auch aus Brandenburg gab es kritische Stimmen: Das Netzwerk „Wir packen’s an“ schrieb, der Beschluss sei absolut unzureichend. 1.500 zu verteilende Geflüchtete seien im Gegensatz zu den 500 Millionen Einwohnern der Europäischen Union nicht nennenswert.

Laut einem von den Grünen eingeholten Rechtsgutachten könnte es sogar möglich sein, dass Bundesländer auf eigene Faust Flüchtlinge aufnehmen dürfen. Demnach könne die Bundesregierung es nicht verweigern, insbesondere wenn Länder „vulnerable Personen“ wie Kinder und ihre Mütter oder unbegleitete Minderjährig aufnähmen. Auch EU-Recht stünde dem nicht entgegen. In der Berliner Verwaltung ist das Gutachten bekannt. Derzeit werde geprüft, ob Alleingänge eine Option für Berlin seien.

Die Retter:innen von Mission Lifeline machen derweil schon mal vor, wie das geht: Sie sammeln derzeit Geld für ein Charterflugzeug von Lesbos nach Berlin, das Flüchtlinge herfliegen soll.

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