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Neuköllns erste Parallelgesellschaft

Die Böhmen in Rixdorf sind ein Beispiel für eine frühe Neuköllner Migrationsgeschichte und eine gelungene Integration. Das Museum im Böhmischen Dorf zeigt die Vergangenheit. Aber wie sieht es mit der Zukunft aus?

Von Uwe Rada

Unverständlich bleibt ihm alles dort.“ So lässt Christian Morgenstern einen Protagonisten in einem Gedicht über ein „böhmisches Dorf“ sinnieren. Denn noch um 1900 war es so, dass Reisende aus Deutschland nach Prag über die „böhmischen Dörfer“ fuhren. Dort sprach man, anders als in der böhmischen Hauptstadt, tschechisch. Für deutsche Ohren unverständlich.

Auch im Böhmischen Dorf in Neukölln wurde lange tschechisch gesprochen. Bis um 1900 hat sich die Sprache der Einwanderer gehalten, die der Soldatenkönig 1737 nach Berlin geholt hatte. 18 Kolonistenhäuser ließ Friedrich Wilhelm I. zwischen der heutigen Richardstraße und der Kirchgasse bauen. Die 18 böhmischen Familien bekamen zudem je zwei Pferde, zwei Kühe und Ackergeräte geschenkt. Die landwirtschaftlichen Flächen befanden sich an der heutigen Grenzallee. In einer zweiten Bebauungsphase von 1748 bis 1751 wurden weitere 20 Büdnerhäuser an dem hinter den Scheunen verlaufenden Weg – der heutigen Kirchgasse, damals Mala ulicka, Enge Gasse – errichtet.

Auslöser für den Exodus der böhmischen „Exu­lanten“ war die Thronbesteigung von Karl VI. in Wien. Mit ihm radikalisierte sich die schon nach dem Dreißigjährigen Krieg begonnene Rekatholisierung in den protestantischen Ländern der Habsburgermonarchie. „Der Priester Augustin Schultz holte im Jahre 1737 die Genehmigung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. ein und brachte damals alle tschechischen Siedler ins Brandenburgische nach Berlin, wo sie sicher waren.“ Das schreibt Šárka Pavelková in ihrer Geschichte über das Dorf Čermná, aus dem damals ein großer Teil der Glaubensflüchtlinge stammte. Zuvor hatten sich die Böhmen schon in Herrnhut in der Oberlausitz niedergelassen und dort die Brüdergemeine gegründet.

Die neue Siedlung in Berlin hieß zunächst Český Rixdorf, später dann auf Deutsch Böhmisch Rixdorf. Rixdorf vor den Toren Berlins, das noch vor der Eingemeindung in die Großstadt 1913 in Neukölln umbenannt wurde, hatte um 1700 weniger als 300 Einwohner. Nach der Ankunft der Siedler wurde es in Deutsch-Rixdorf und Böhmisch-Rixdorf geteilt. Im Jahr 1805 lebten in Böhmisch-Rixdorf 319 und in Deutsch-Rixdorf 376 Menschen.

Von alledem erfahren die Neuköllnerinnen und Neuköllner im Museum im Böhmischen Dorf. 2005 wurde es gegründet. Seinen Sitz hat es im 1753 erbauten Schulgebäude von Böhmisch-Rixdorf in der Kirchgasse 5. Zu sehen ist dort vor allem, was Brigitta Polinna und ihre Mitstreiter gesammelt haben, zum Beispiel die Kirchentracht der Herrnhuter, historische Sterne sowie die Siedlungsgeschichte des Dorfes.

Auch ein Stadtplan ist im Museum zu sehen, auf dem die Einwanderung der Böhmen im heutigen Berlin abgebildet ist. So gab es neben Böhmisch-Rixdorf noch die längst vergessenen Siedlungen Krásná Hora in Schöneberg oder Krásná Lipa bei Köpenick. Böhmisch-Rixdorf ist das einzige der „Böhmischen Dörfer“, das sich in die Gegenwart retten konnte. In Potsdam ist es die Siedlung Nowawes (Neudorf), die den Kern des heutigen Stadtteils Babelsberg bildet. Während sich in Nowawes vor allem Weber aus Böhmen niederließen, schneiderten die Böhmen in Rixdorf Uniformen für das preußische Militär.

Neid! Die „Exulanten“ waren steuerbefreit

Im Grunde ist die Ankunft der Böhmen in Rixdorf ein Beispiel für eine frühe Neuköllner Migrationsgeschichte. Weil die „Exulanten“ keine Steuern zahlen mussten, gab es unter den Deutsch-Rixdorfern, wie sie bald genannt wurden, Neid. Auch die Sprache, die Traditionen und die Religion unterschieden die neuen Nachbarn von den ansässigen Bewohnerinnen und Bewohnern. So blieben die tschechischsprachigen Einwanderer, die sich in Herrnhut der Brüdergemeine angeschlossen haben, unter sich.

„In der Brüdergemeine“, sagt Brigitta Polinna bei einem Rundgang durchs Museum, „durfte man lange nicht ausgehen, keine Karten spielen, keinen Alkohol trinken. Das war sogar noch bei meiner Großmutter so. Und man hat immer drauf geachtet, dass man jemanden heiratet, der auch zur Gemeinde gehört, auch wenn es später nicht unbedingt ein Böhme sein musste.“ Es ist also eine Art Parallelgesellschaft in Rixdorf entstanden. Aber auch eine erfolgreiche Integration.

Zu dieser Integration hat auch die „größte Katastrophe des 19. Jahrhunderts beigetragen“, wie der Brand vom 28. April 1849 im Büchlein „Das Böhmische Dorf. Ein Idyll in Berlin“ heißt, das im Museum verkauft wird. 52 Wohnhäuser, 28 Scheunen und 74 Stallungen wurden vernichtet, 546 Menschen wurden obdachlos. Sie wurden nicht selten von Deutsch-Rixdorfern aufgenommen. Beim Wiederaufbau leistete auch das preußische Königshaus finanzielle Unterstützung.

An den Brand erinnert heute noch eine Tafel in der Richardstraße 80. Wer sich auf dem Weg vom U-Banhnhof Karl-Marx-Straße zum Böhmischen Dorf übrigens wundert, warum in der Uthmannstraße so niedrige Häuser stehen: Das sind Büdnerhäuser, die nach dem Brand dorthin verlegt worden sind.

Anders als Deutsch-Rixdorf am Richardplatz, von dem nur noch die Häuser stehen, ist Böhmisch-Rixdorf heute mehr als ein Museum, es ist ein gelebtes Stück Neuköllner Geschichte. Dass nun mit dem Coworking-Anbieter Unicorn modernes Leben in das traditionsbewusste Dorf zieht, bereitet vielen Angst. Zu Recht? Nein, sagt der Leiter des Museums Neukölln, Udo Gösswald. „Das Böhmische Dorf ist nicht nur dörfliche Kulisse. Es repräsentiert ein wichtiges Stück preußischer Einwanderungsgeschichte“, erklärt Gösswald die Bedeutung des Dorfes. Die Zeit der reinen Historisierung, wie es sie noch in den 80er Jahren gegeben habe, sei aber vorbei. „So sollte bei Wahrung des Denkmalschutzes der Ort Teil einer Stadterfahrung werden, die auch neue Nutzungen erlaubt. Diese neuen Nutzungen sollten durch die Bewohnerinnen und Besucher vor Ort entscheidend mitgestaltet werden können.“

Alt und neu zusammen. Das Böhmische Dorf und das Unicorn-Village und der Wunsch junger Neuköllner nach ein bisschen Heimat im Kiez – ob das verhindern kann, dass aus Böhmisch-Rixdorf ein Museum wird, ist offen. Einen Versuch ist es wert.

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