Gospel mit Schmackes: Barbershop Erleuchtung

Zwei fantastische Compilations zeigen, welche unglaubliche Hoffnung aus US-Gospelsongs spricht. Die Musik verleiht im Kampf gegen Ungleichheit Flügel.

Musiker auf der Bühne

The Floyd Family Singers bei einem Konzert, 1979 Foto: Luaka Bop

Ein Text über Gospelmusik muss im Friseursalon beginnen. Was Gospel anbelangt, sind Friseursalons sogar wirkmächtiger als Kirchen. In der afroamerikanischen Community ist der Friseursalon der Ort, an dem das Evangelium (englisch Gospel) verkündet wird. Friseur:innen sind Mentoren. Mit den Kunden erörtern sie im Barbershop entscheidende Schritte ins Erwachsenenleben ebenso wie die politische Weltlage, sie lindern Herzschmerzprobleme, streuen Society-Gossip und verhandeln die neuesten Sportergebnisse.

Und ja, im Friseursalon werden nicht nur Haare harmonisiert (geglättet), sondern auch Melodien. Man spricht von „Barbershop Soul“, als Ideenwerkstatt für versierte Gesangsharmonien. Und allgemein hat sich auch die „Session“ als Termin im Barbershop eingebürgert, als wäre es einer im Aufnahmestudio.

So beschreibt es der Detroiter Pastor Keith L. Whitney in den Linernotes zur äußerst empfehlenswerten Compilation „World Spirituality Classics“. Whitney nennt nicht etwa sein Gotteshaus, die Sanctuary Fellowship Baptist Church, zuerst, sein Dank geht zuvörderst an den Friseur, Vonnie Whitlow von „Whitlow’s Barber Lounge“ auf der Westside von Detroit, dessen Laden als zentrale Anlaufstelle der Gemeinde gilt.

Auf dem Gospel-Highway

Im zeitgenössischen Mainstream fristet Gospel dank Stars wie Kanye West und Stormzy heute kein Schattendasein mehr, sie bedienen sich selbstverständlich aus dem Musikschatz und inszenieren sich gar selbst als Messias und Prediger. In früheren Pop-Epochen spielte Gospel dagegen in einem Paralleluniversum mit eigenen Charts, Radiosendern und Auftrittsrouten in Kirchen und Gemeindesälen, „Gospel Highway“ genannt.

Various Artists: „World Spirituality Classics 2“ (Luaka Bop) | Various Artists: „No Other Love: Midwest Gospel 1965–1978“ (Tompkins Square/Cargo)

Die 14 Songs auf „World Spirituality Classics“ erzählen von dieser Zeit. Sie stammen aus den Sechzigern und Siebzigern. Zum Beispiel „The Price of Love“ von Reverend Harvey Gates. Seine Musik unterscheidet sich nicht von einem weltlichen Soul-Torch-Song. Die Stimme des unbekannten Interpreten klingt wettergegerbt, „The price of love, heart aches and pain / The price of love, heart aches and pain“ singt er hörbar angestrengt, dazu spielt ein sachte verstimmtes Piano kratzige Bluenotes, das Schlagzeug schleppt die ganze Mühsal der Existenz.

Aber die Message spendet so viel Kraft wie eine heiße Brühe: „Jesus said, if the world hate you just remember one thing / I passed this way before, yeah, yeah“. Wer also mal wieder von einem Twitterfeed beleidigt wurde, lernt hier: anderen erging’s auch nicht besser.

Die Armen, die Gebeutelten

In diesem und den anderen Beiträgen von „World Spirituality“ wird eine „Theologie der Erfahrung“ gelehrt. Es geht nicht um die strikte Bibelauslegung, „es geht darum, dass Gott die Armen nicht vergisst, die Gebeutelten und die Arbeitslosen“, schreibt der Religionswissenschaftler William B. McClain in seinem Buch „Songs of Zion“.

Alle kennen Standards wie „We Shall Overcome“ oder „Swing Low, Sweet Chariot“, das sind klassische Spirituals, die längst auch in einem weltlichen Zusammenhang bedeutsam sind. Geht man weiter zurück in der Geschichte der USA, bilden Spirituals, Vorläufer des Gospel, die wichtigste Quelle der Fantasie. In ihnen fanden die Sklaven Ausflucht vor dem erlittenen Unrecht, sie konnten sich in den Songs die Freiheit vorstellen und ausmalen. Bevor ihnen Lesen und Schreiben erlaubt wurde, gab es durch die Missionierung Möglichkeiten, in den biblischen Vorstellungswelten durch Sprachübertragung Nachrichten zu vermitteln.

Der „Himmel“ ist in einem Spiritual nie nur göttlicher Weltraum, sondern Codewort für Kanada, also Zielort der Flucht aus der „Hölle“, und mit der Hölle waren die US-Südstaaten mit ihren Tabak- und Baumwollfeldern gemeint, wo Sklaven unter unmenschlichen Bedingungen schuften mussten. Und der Teufel ist kein Beelzebub mit Schwanz und Dreizack, sondern der weiße Sklavenhalter. Das Elend, aber auch die unglaubliche Hoffnung, wie sie aus den Spirituals spricht, man hört es in den Gospelsongs auf „World Spirituality Classics“ ebenso wie in der Compilation „No Other Love: Midwest Gospel 1965–1978“.

Erfolge der Staple Singers

Es war das Goldene Zeitalter des Gospelsounds, die sozialen Impulse der Civil-Rights-Bewegung vibrieren. Mit den Staples Singers feierte eine Gospelcombo sogar Erfolge im weltlichen Mainstream. Als eine der ersten setzten die Staple Singers instrumentale Begleitung gleichberechtigt zu den Stimmen ein. Nun kennt man rhythmisches Händeklatschen, Füßestampfen oder Hände-in-die-Luft-Werfen als Stilmittel des Soul.

Zuerst wurde dies im Gospel praktiziert. „Don’t give up / Oh no / Please / Don’t give up / For if you hold out through the night / I know that joy will come / Don’t give up / Oh yes it will / I know he / Don’t give up / Wipe away / Don’t give up / All your tears“, heißt es in dem Song „Don’t Give up“ der Williams Singers und die Zuversicht überträgt sich beim Hören. „We don’t love enough“, verkünden etwa The Triumphs. „Well, I was talking to a friend of mine the other day / He told me to tell you these few words / He said Joe / We don’t love enough / Yeah, yeah / He said that you and me / We need keep seeing love / If you agree“.

Es sind die ausgefeilten Gesangstechniken, die über Jahrhunderte weiterentwickelt wurden, das Rousement, das emotionale Aufheizen durch das Halten von Tönen, und das Vamping, das künstliche Hinauszögern von Vokalen am Strophenende, sowie die versierten Call-&-Response-Techniken – im Falle der Triumphs das direkte Ansprechen eines „Joe“.

Beinhartes Leben

Manchmal wird das Unrecht ausgesprochen und bleibt bestehen: In dem Song „It’s so hard to live in this Old World“ bemängelt der Heilige Geist, der durch Reverend Gates spricht, die ungleiche Einkommensverteilung und die Verrohung der Gesellschaft: „Man don’t have respect anymore/ Smile in your face but don’t you turn your back/ It’s so hard to live in this old world“.

Das Evangelium (griechisch die gute Botschaft) der wirkmächtigsten afroamerikanischen Denomination, der Baptisten, steht politisch links: kapitalismuskritisch und sozialreformerisch, ersichtlich an den Ansichten des einflussreichen US-Pietisten Walter Rauschenbusch (1861–1918), der, genau wie die Schriften von Karl Marx, starken Einfluss auf Martin Luther King ausübte.

Man kann das auch auf dem Sampler „No Other Love: Midwest Gospel 1965–1978“ nachhören, der Material aus den Gospelmetropolen Chicago und Detroit enthält, etwa Reverend Harington, der sich mit Bluesgitarrenbegleitung und einem Chor „Christmas in Heaven“ vorstellt, wo es friedlicher zugehen wird als hienieden. Andere Menschen haben auch ihr Päckchen zu tragen, das sagt einem diese fantastische Musik. Und lässt einen demütig durch den Tag gehen.

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