50 Jahre Art Ensemble of Chicago: Zukunft, aus Vergangenheit gebaut

Das Art Ensemble of Chicago verbindet Alte und Neue, klassische und populäre, schwarze und weiße Musik. Zum 50. Jubiläum gibt es ein neues Album.

Eine Gruppe von Musikern steht in einem Garten versammelt.

Das Art Ensemble of Chicago im Garten; Roscoe Mitchell trägt gelbe Krawatte Foto: Barbara Barefield

Haus der Berliner Festspiele, ein Abend während des Jazzfests 2018: Auf der Bühne steht Moor ­Mother, eine afroamerikanische Musikerin, in Schwarz gekleidet, lange, zurückgebundene Dreadlocks, die Augen geschlossen beim Singen. Mit sonorer Stimme trägt sie Verse vor, rappt wie eine Beatnik-Dichterin: „We are on the edge of victory / After all that dope and dancing and drunkenness […] We are on the edge of victory and the choir is singing in the background: Yeah!“ Stakkato-Geigen ertönen, man hört das Trippeln von Trommeln, das Spotzen eines Saxofons.

Es ist das Art Ensemble of Chicago, in dessen Mitte Moor Mother ihre Kreise zieht; die Künstlerin aus Philadelphia, die in der Popszene für ihren düster-brodelden, experimentellen Sound geschätzt wird, ist Gastmusikerin. Flankiert wird sie von zwei Grandseigneurs der Gründergeneration des MusikerInnen-Kollektivs, von Roscoe Mitchell und Famoudou Don Moye.

In diesem Jahr feiert das Art Ensemble of Chicago sein 50-jähriges Bestehen. Und ebenjenes „We are on the Edge“ – „Wir sind am Rande“ oder „Wir stehen am Abgrund“ könnte man es gleichermaßen übersetzen – gibt dem vor einiger Zeit erschienenen Jubiläumsalbum seinen Titel. Es ist mehr als zwei Stunden Musik lang – langweilig aber ist es keinen Augenblick, denn prallvolle Musikgeschichte wird in diesen zwei Stunden lebendig: Free Jazz, klassische europäische Avantgarde, Oper, Karibik-Sounds und Afrobeat.

Seit mehr als zehn Jahren hatte das Art Ensemble kein eigenständiges Studioalbum mehr veröffentlicht, nun dieses Mammutwerk, das man als vorläufiges Vermächtnis der ersten Art-Ensemble-Generation verstehen kann. Abgesehen vom Sun Ra Arkestra gibt es keine andere Formation, die einerseits so sehr an der Aufhebung musikalischer Formen gearbeitet und andererseits so sehr schwarze Musiktraditionen („Great Black Music“) in andere Kontexte überführt hat. Und die sich dessen bewusst war, dass Erneuerung nur aus und mit dem Alten (und den Alten!) entstehen kann.

Tomeka Reid

„Das Art Ensemble steht für den Gedanken, in der Gruppe du selbst sein zu können, ohne dich verstellen zu müssen“

Die Kontinuität dieses Ansatzes betont Roscoe Mitchell, das letzte lebende Mitglied der Urbesetzung, im Telefongespräch. „Ein Motto des Art Ensembles lautete damals: ‚Ancient to the Future.‘ Das passt auch heute noch. Denn so gehen wir stets an unsere Musik heran: Wir beginnen mit Altbekanntem, und von dort aus betreten wir Orte, die wir noch nicht kennen.“ Der 79-jährige Saxofonist, Klarinettist und Perkussionist hat seine Mitstreiter – Trompeter Lester Bowie (1941–1999), Kon­tra­bas­sist Malachi Favors (1937–2004) und Saxofonist Joseph Jarman (1937–2019) überlebt.

„Neue Sachen lernen“

Bis vor Kurzem lehrte Mitchell Komposition am kalifornischen Mills College, nun ist er emeritiert. Zur Ruhe setzen will er sich nicht. „Ich bin mehr als je zuvor in meinem Leben daran interessiert, neue Sachen zu lernen. Ich bräuchte viel mehr als bloß ein Leben, um all das über Musik zu lernen, was ich gerne lernen würde“, sagt er.

Diese Haltung zur Musik und zum Leben hat ihn auch die Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) gelehrt. Das Improvisationskollektiv gründete sich im Chicago der Sechziger als – schwarzes – Pendant zu den Ensembles der Freien Musik in Europa, wo sich in den Sechzigern Kollektive um Labels wie Free Music Production (Berlin) bildeten. Das Art Ensemble war und ist so etwas wie die Hausband des AACM.

Dessen Karriere nimmt aber nicht in Chicago Fahrt auf, sondern in Paris. Dorthin verschlägt es das Quartett 1969, weil sie in Frankreich leichter an Live-Engagements kommen. Es soll eine intensive Schaffensperiode werden, 15 Alben entstehen innerhalb von zwei Jahren. Seinerzeit spielen sie Songs wie „A Brain for the Seine“ und Alben wie „Message to Our Folks“ (1969) und „A Jackson in Your House“ (1969) ein – Letzteres zeigt am Eindrucksvollsten, wie Mitchell & Co. Stereotypen der schwarzen, „wilden“ Musik mit Scatgesang und Performanceelementen konterkarieren.

Ein Sammelsurium aus Percussion-Spielzeugen

Live stehen sie für großes Spektakel, tragen Gesichtsbemalung und Gewänder, die Bühne ist ein Sammelsurium aus Percussion-Spielzeugen. „Nach dem Art Ensemble sollten experimentelle Musik und Jazz nie wieder dasselbe sein“, schreibt Paul Steinbeck, Autor der Bandbiografie „Message to Our Folks“ (University of Chicago Press, 2017) – zutreffend, weil das Art Ensemble ein Nebeneinader der zuvor als Antagonismen wahrgenommenen Musikstile ermöglichte: Alte und Neue Musik, schwarze und weiße Musik, klassische und populäre Musik.

„Helden waren für mich Leute wie Jean Karakos“, erklärt Mitchell der taz. Karakos, Betreiber des französischen Labels BYG, initiiert 1969 das Festival Actuel in Belgien. „Da spielten John Cage, Frank Zappa und das Art Ensemble auf ein und derselben Bühne“, erinnert sich Mitchell – für ihn war die Begegnung mit Karakos ähnlich fruchtbar wie das Zusammentreffen mit Jazz-Erneuerer Albert Ayler Jahre zuvor in Berlin (zwischen 1958 und 1961 war Mitchell beim Militär in Heidelberg stationiert). Auch das Werk anderer Freejazzer wie Ornette Coleman und Eric Dolphy erlebte er als Befreiung: „Plötzlich ergab alles Sinn!“, sagt er.

Der freigeistige Spirit ist es, der das Art Ensemble heute für junge Künstler wieder attraktiv macht. Für die Cellistin Tomeka Reid etwa, die als Gast auf „We are on the Edge“ mitgewirkt hat. Die 42-Jährige spielte in ihrer Heimatstadt Washington zunächst in Orchestern, kam dann mit ihrem klassischen Musik-Background Ende der Neunziger nach Chicago. „Beim AACM habe ich unter anderem gelernt, dass es okay ist, Fehler zu machen. Ich habe das Komponieren in Echtzeit gelernt. Und das AACM gab mir den Raum, mich künstlerisch zu entfalten, zu wachsen“, erklärt sie im Telefongespräch.

„Individuelle und kollektive Erfahrungen“

Was Improvisieren ihr bedeutet? „Du kannst all die unterschiedlichen Erfahrungen deines Lebens in diese Musik einbringen. Individuelle und kollektive Erfahrungen werden im Prozess des Improvisierens eins. Das Art Ensemble steht für den Gedanken, in der Gruppe du selbst sein zu können, ohne dich verstellen zu müssen.“

The Art Ensemble of Chicago: „We are on the Edge: A 50th Anniversary Celebration“ (Erased Tapes/Indigo)

Auf „We are on the Edge“ sind all diese Qualitäten zu hören – Dialoge, Call-and-response-Techniken, der tastende, essayistische Ansatz der Musik. Neben den Studioaufnahmen, die in Ann Arbor im Oktober 2018 eingespielt wurden, sind sieben Liveversionen enthalten, die ebenfalls in Ann Arbor beim Edgefest 2018 eingespielt wurden. Bei diesen Stücken sind insbesondere die Improv-Parts – zum Beispiel die Drums, Congas und Djembés von Don Moye oder die frickligen Kontrabass-Passagen von Jaribu Shahid, Junius Paul und Dudù Kouaté – beeindruckend, bei manchen Songs handelt es sich um Varia­tionen der Studio-Stücke.

Insgesamt überzeugt „We are on the Edge“ mit seinen überraschenden Wendungen und Einschnitten, im Titelstück hört man etwa zunächst einen groovenden Kontrabass, der auch Soundtrack-Großmeister Henry Mancini gefallen hätte, ehe Moor Mother mit ihrem spröden Sprechgesang übernimmt. Daneben ragen die Stücke heraus, bei denen der junge puertoricanische Opernsänger Rodolfo Cordova-Lebron den Gesangspart übernimmt – urplötzlich bekommt die Musik mehr Leichtigkeit, nimmt einen Vaudeville-Schlenker.

Und mit Stücken wie dem polyrhythmisch flackernden, perkussionslastigen Stück „Chi-Congo 50“ nimmt man verdientermaßen Bezug auf die eigene Geschichte – „Chi-Congo“ hieß ein früheres Album des Art Ensembles. Mit „We are on the Edge“ scheinen sie nun den Staffelstab an die nächste Generation weiterzugeben – was beeindruckend gut gelingt.

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