Schafzüchter in Wales und der EU-Austritt: Brexit? Mäh!

Der neue britische Premier Boris Johnson fasst einen No-Deal-Brexit ins Auge. Für die meisten Schafzüchter wäre es das Ende – trotzdem sind sie dafür.

Boris Johnson streichelt ein Schaf

Kann ein Schäfchen in der politischen Herde der Liberalen einen ungeregelten Brexit stürzen? Foto: reuters

BUILTH WELLS, BRECON UND UPPER BRYN taz | Mitten im Regen quetschen sich Schafe durch mit Stahlgittern begrenzte Wege in einzelne Parzellen. Ein Marktmitarbeiter auf einem Steg darüber prüft die etwas verdutzen Tiere anhand einer Liste. Davor stehen ein Dutzend Männer, die sich leise über die Tiere unterhalten, sich über Preise einigen, bevor die Tiere per Farbspray bezüglich ihrer neuen Besitzer markiert und dann in riesige Transporter geleitet werden.

Es ist Schafmarkttag im walisischen Builth Wells, und Rick Thanes und Bill Griffiths wollen ein paar Tiere loswerden. Thanes besitzt über 1.000 Schafe, Griffiths sogar 3.000. Wenn sie Glück haben, landen einige davon demnächst in Europa. Knapp 40 Prozent der Schafe in Wales werden exportiert, 94% davon gehen in die EU.

Thanes und Griffiths sind sich einig. Sie sind für den Brexit – auch in ungeregelter Form, so wie Boris Johnson es verspricht, sollte es bis zum 31. Oktober zu keinem neuen Übereinkommen mit der EU kommen. Schafe wie diese würden dann aber beim Export in die EU mit einem Zoll von 46 Prozent belegt werden, sollte die EU dann Großbritannien als Drittland wie jedes andere behandeln. Die beiden Schafzüchter gestehen, dass es nahezu das Ende für ihre Schafzucht darstellen würde. Dennoch sei man für Brexit. Der 80-jährige Griffiths würde dann einfach endgültig in Rente gehen. Thanes ist erst 27 – er sagt schlicht, dass er dann eben mehr Lohnarbeit machen werde.

Ein weiterer Schafzüchter, Pugh Dillwyn, spricht statt über Schafe über das staatliche Gesundheitssystem, das angeblich von Einwanderern überlaufen sei. Nur noch Leute, die hier eine Arbeit haben, sollten ins Land kommen dürfen, findet der 73-Jährige. Neben ihm steht Fred Prise, mit 81 Jahren auch nicht mehr der jüngste, ihm gehören 3.000 Tiere. „Ich bin für den Verbleib in der EU“, sagt er. Seine Tiere gingen oft nach Italien und Frankreich, erzählt er. Deswegen ist er für den Status quo, „weil wir in den letzten drei Jahren nie die Wahrheit hörten.“

Hier geht nichts außer Schafe

Die Landwirtschaft ist mit sechs Milliarden Pfund jährlich ein wichtiger Wirtschaftssektor in Wales, 25.000 Bauern leben davon, sie unterstützt 45.000 Arbeitsplätze. Schafzucht ist der wichtigste Teil davon. Ihre Zukunft war denn auch ein Hauptthema bei dem Blitzbesuch des neuen britischen Premierministers Boris Johnson in Wales am Dienstag – zwei Tage, bevor im walisischen Wahlkreis Brecon & Radnorshire an der Grenze zu England eine Nachwahl stattfindet, von der Johnsons Schicksal im Parlament abhängt – verlieren die Konservativen diesen Sitz an die EU-freundlichen Liberaldemokraten, die von Grünen und walisischen Nationalisten unterstützt werden, schrumpft ihre Mehrheit im Unterhaus auf einen einzigen Sitz. Das Parlament könnte dann versuchen, Johnsons Drohung eines No-Deal-Brexit am 31. Oktober zu durchkreuzen.

„Wenn es zu einem ungeregelten Brexit kommt, kann ich die Schafzucht einpacken und nur ein paar Tiere als Hobby behalten“, sagt der 53-jährige Chris Bowen, auf dessen 48-Hektar-Farm Wahlplakate für die Liberaldemokraten werben. In dieser Hügellandschaft gehe eigentlich nichts außer Schafe, sagt er. Um über die Runden zu kommen, habe er in Tourismus, Biomassen­energie und Hydroenergie investiert. Außerdem verpflegt er Pferde anderer und bietet Lagerhallen an. Echte landwirtschaftliche Arbeit macht nur noch 30 Prozent seines Unternehmens aus. „Ich kann zwar im Zweifelsfall auch ohne Schafe überleben. Traurig wäre es dennoch, immerhin geht die Schafzucht in meiner Familie mindestens vier Generationen zurück.“

Auf dem Viehmarkt von Brecon ist John Eirian Davies eine zentrale Gestalt, denn unter ihm fällt der Hammer zu jedem Deal. Im Auktionsraum, wo sich normalerweise, wenn kein Ruhetag ist, Tiere wie auf einer Modenschau vor den Händlern präsentieren, sagt der 50-Jährige: „Wissen Sie, viele stimmten einfach für den Brexit, weil ihnen die Bürokratie zum Handel in der EU zu viel geworden war. Ein ungeregelter Brexit, der auf den Rinderhandel sogar einen Zoll von 65 Prozent zum Export in die EU setzen würde, bedeutet die Gefahr billiger Importe aus Ländern wie Neuseeland, Peru, Chile, und innerhalb der EU wäre Polen eine Konkurrenz.“ Nach Berechnungen der britischen Bauerngewerkschaft NFU (National Farmers Union) würde der Rinder- und Schafpreis bis 2025 um 45 Prozent sinken müssen. „Wenn Sie mich fragen, bedeutet die Tatsache, dass wir an diesem Punkt angelangt sind, dass die Politik aus Westminster nicht im geringsten mehr funktioniert.“

Die britische Regierung hat versprochen, dass die EU-Agrarsubventionen auch nach dem Brexit einfach weiterlaufen. Ab 2022 soll dann eine siebenjährige Übergangsfrist hin zu einem neuen Subventionsregime beginnen. NFU-Brexitberaterin Gail Soutar sagt zur taz, dass dies alleine nicht reiche, denn es kämen ja noch die Veränderungen bei den Zöllen hinzu – und „seit Johnson Premierminister ist, ist uns vollkommen klar, dass die Regierung die Vorbereitungen für einen ungeregelten Brexit weiter ausbaut.“

Russisches Roulette mit der Branche

Kein Problem für Johnson: „Sollte es Märkte geben, die sich als schwierig erweisen, werden wir sicherstellen, dass die Landwirtschaft die Unterstützung hat, die sie braucht, um neue Märkte zu finden,“ sagte er bei seinem Wales-Besuch. Man werde Maßnahmen treffen, „um Landwirte und ihre Einkommen zu unterstützen.“ Doch die Vorsitzende des walisischen Schafzüchterverbandes, Helen Roberts, erwiderte Johnson, er solle „aufhören russisches Roulette mit der Branche zu spielen“. Auch der Führer des walisischen Parlaments, Mark Drakeford von der Labour-Opposition, der Johnson traf, kritisierte ihn. „Ich bat ihn, mir zu erklären, um welche Maßnahmen und Märkte es sich handelt, und erhielt keine Antwort“, erklärte er britischen Fernsehteams. Leerer Optimismus sei jedenfalls nicht, was Wales brauche.

Für den Fall eines No-Deal-Brexits will Großbritannien zusätzliche 2,1 Milliarden Pfund (rund 2,3 Mrd Euro) zur Verfügung stellen, um das Land auf einen EU-Austritt ohne Abkommen vorzubereiten, kündigte Finanzminister Sajid Javid an. Die zusätzlichen Gelder sollten sicherstellen, dass sein Land bereit sei – „mit oder ohne Deal“. Sie sind unter anderem für die Grenzsicherung, die Medikamentenversorgung sowie zur Unterstützung von Unternehmen bestimmt.

Der finanzpolitische Sprecher der oppositionellen Labour-Partei, John McDonnell, nannte die Maßnahmen eine Verschwendung von Steuergeldern. „Diese Regierung hätte einen No-Deal-Fall ausschließen und diese Milliarden für unsere Schulen, Krankenhäuser und Menschen ausgeben können“, sagte der Politiker. Die neue Finanzspritze bedeutet auch eine Abkehr von der Politik der Vorgängerregierung. Deren Schatzkanzler Philip Hammond hatte einen No-Deal stets abgelehnt. (dpa)

„Wir haben wiederholt bekannt gemacht, dass wir für einen ungeregelten Brexit bereit sind“, erklärt das Agrar- und Umweltministerium. Man habe schon die EU-Drittstaat­anerkennung für britischen Tierprodukte für die Zeit nach Brexit ausgehandelt. Doch das bedeutet allein, dass Produkte weiterhin in die EU exportiert werden können. Es regelt nicht die Frage der Zölle.

Sollten in Brecon die Liberaldemokraten am Donnerstag siegen, kann es durchaus als ein lautes Määh aus der Landwirtschaft gegen einen ungeregelten Brexit unter Boris Johnson gesehen werden. Könnte seine Regierung Großbritannien mit einer Mehrheit eines einzigen Schäfchen in ihrer politischen Herde das Land in einen ungeregelten Brexit stürzen? Wahrscheinlich versicherte Johnson deshalb in Wales, dass das Risiko eines ungeregelten Brexit „verschwindend gering“ sei. Er sucht nach wie vor eine neue Einigung mit der EU, auch wenn diese bislang Neuverhandlungen ablehnt.

Hinter der Grenze in Upper Bryn, im englischen Herefordshire, steht Landwirt Rob Sparks, 56, am idyllischen Ententeich auf dem kurzgeschorenen Rasen seines Guts, wo er sein Geld mit Pferdezucht verdient. „Farmer wie ich sollten sich nicht auf Politiker, sondern nur auf sich selbst verlassen“, sagt er. 2016 stimmte er für den Austritt aus der EU – „weil zu viele Leute in dieses Land kommen, wir können uns nicht mal ausreichend um unsere eigenen Leute kümmern.“ Aber hier in der grünen Idylle gibt es doch weit und breit keine Zuwanderer? „Eben deswegen“, sagt er. „Damit es so bleibt.“

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