Regierungserklärung im Unterhaus: Boris Johnson startet durch

Der neue Premierminister bildet ein Brexit-Kabinett und verspricht ein „goldenes Zeitalter“. Er hofft auf einen neuen Brexit-Deal mit der EU.

Boris Johnson redet im Unterhaus

Klingt eher nach Wahlkampf als nach Regierungserklärung: Boris Johnson im Unterhaus Foto: reuters

BERLIN taz | Die Arme wedelten in alle Richtungen, die Stimme überschlug sich, manchmal verschluckte er seine Sätze und drehte sich in alle Richtungen. Boris Johnsons erster Auftritt im britischen Unterhaus als Premierminister war so fulminant, wie seine Fans es sich gewünscht und seine Kritiker es befürchtet hatten. Der um blumige Worte nie verlegene Parlamentspräsident John Bercow, der in diesem Regierungschef jetzt erstmals seinen rhetorischen Meister gefunden hat, musste Johnson einmal sogar auffordern, nicht mit der Hand das Mikrofon hinwegzufegen. Ansonsten kapitulierte Bercow zuweilen vor dem Gejohle und Gebrüll der aufgepeitschten Parlamentarier aller Seiten.

Es sollte eigentlich nur eine Regierungserklärung werden, bevor sich das Parlament in die sechswöchige Sommerpause verabschiedet. Es hörte sich eher an wie der Auftakt eines Wahlkampfs, der zwar noch nicht begonnen hat, an dessen Näherrücken aber niemand zweifelt. Jeremy Corbyn, Führer der Labour-Opposition, forderte Boris Johnson auf, das Ergebnis seiner Brexit-Neuverhandlungen mit der EU dem Volk vorzulegen, und kündigte an, Labour werde für den EU-Verbleib eintreten, wenn dieser neue Deal Arbeitsplätze oder Sozial- und Umweltstandards gefährde.

Die Konservativen brüllten in gespielter Empörung, Johnson konnte sich vor Begeisterung kaum halten: Das sei ja hier wie in der letzten Szene des Science-Fiction-Blockbusters „Invasion of the Body Snatchers“, höhnte er, der Labour-Chef sei offensichtlich von irgendwem zu einem EU-Unterstützer „umprogrammiert“ worden, und jetzt sei klar: Die Konservativen seien die Partei der Mehrheit, Labour die der Minderheit. Corbyn saß geplättet auf seiner Bank.

Den Großteil seiner Regierungserklärung widmete Johnson dem Brexit. Einen „neuen“ und „besseren“ Deal mit der EU wolle er aushandeln, und er hoffe, dass die EU darauf eingehe. Ein neues Abkommen sei die beste Lösung, aber wenn es keines gebe, werde Großbritannien die EU trotzdem verlassen. „Alles andere würde zu einem katastrophalen Vertrauens­verlust in das politische System führen.“ Der Weg zu einem neuen Brexit-Abkommen führe über die Überwindung des ungeliebten Nordirland-Backstop – technische Alternativen, mit denen sich neue Grenz­kon­trol­len in Irland vermeiden ließen, seien schließlich vorhanden. Dem Austritt am 31. Oktober sei er „absolut verpflichtet“, betonte Johnson.

Das Kabinett, das der neue Premier in der Nacht zuvor gebildet hatte, ist denn auch eine Brexit-Regierung. Alle Minister mussten sich verpflichten, einen Brexit am 31. Oktober notfalls auch ohne Deal zu unterstützen. Deswegen ist Johnsons Rivale um die konservative Parteiführung, der bisherige Außenminister Jeremy Hunt, nicht mehr dabei, ebensowenig dessen Unterstützer und andere prominente Verbündete der Expremierministerin Theresa May, die dem Parlamentsauftritt ihres Nachfolgers fernblieb.

Die höchsten Posten in der Regierung halten jetzt Politiker, die schon in der Brexit-Kampagne zur Volksabstimmung 2016 prominente Rollen einnahmen (siehe Bildergalerie). Insgesamt, so rechnen Fachjournalisten vor, halten sich zwar EU-Gegner und EU-Befürworter von damals die Waage, so wie schon bei Theresa May – aber die Gegner haben diesmal die wichtigeren Rollen inne. Und es ist die ethnisch diverseste Regierung, die Großbritannien je hatte.

Die klügsten intellektuellen Köpfe des Brexit halten die wichtigsten organisatorischen Funktionen: Brexit-Stratege Michael Gove als Kabinettsminister mit einer koordinierenden Rolle für No-Deal-Vorbereitungen, Brexit-Vorkämpfer Jacob Rees-Mogg als Parlamentsminister mit Zuständigkeit für Gesetzesvorhaben, Brexit-Wahlkampfleiter Dominic Cummings als Johnsons Sonderberater, dem alle Ministerialberater quer durch die Regierung direkt unterstellt sind und dessen Mitstreiter aus der Referendumskampagne jetzt auch die Kommunikationsabteilung des Premierministers führen. Die siegreiche Vote-Leave-Kampagne von 2016 wird Regierungsteam.

Der Brexit ist dabei aber nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Schon 2016 galt der EU-Austritt den konservativen Brexit-Befürwortern wie Johnson nicht als Selbstzweck, wie bei den radikalen Europagegnern um Nigel Farage, sondern als Mittel zum Zweck: um Entscheidungskompetenzen, die bisher in Brüssel angesiedelt sind, nach London zurückzuholen und damit politische Gestaltungshoheit zurückzugewinnen. „Unsere Mission“, rief Boris Johnson im Parlament denn auch gleich zu Beginn seiner Rede, „ist, den Brexit zum 31. Oktober zu vollziehen, um dem Vereinigten Königreich neue Energie zu geben und dieses Land in den tollsten Ort der Welt zu verwandeln“.

Er zeichnete das Bild eines Großbritannien, das bis zum Jahr 2050 die reichste und größte Volkswirtschaft Europas wird, der attraktivste Investitions­standort zur Entwicklung neuer Technologien, die globale Führungsnation beim Kampf gegen den Klimawandel, „sauber, grün, vereint, wohlhabend und ambitioniert“. Der 31. Oktober sei, wenn der Brexit eintrete, für Großbritannien „der Beginn eines neuen goldenen Zeitalters“.

Auch das klang eher wie eine Wahlkampfrede. Die beste Möglichkeit, Neuwahlen schon vor dem 31. Oktober anzusetzen und damit den drohenden No-Deal-Brexit vom Wählervotum abhängig zu machen, hat die Opposition aber schon verspielt. Labour-Chef Jeremy Corbyn ist der Einzige, der jederzeit im Parlament die Vertrauensfrage stellen und damit Neuwahlen erzwingen kann. Er hat es nicht getan, trotz entsprechender Aufforderung durch die frischgebackene Liberalenchefin Jo Swinson. Boris Johnson kann erst mal ungestört bis Anfang September in die parlamentarische Sommerpause gehen.

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