Studie zu Ost-Wirtschaft sorgt für Zoff: Einmal abgehängt, immer abgehängt
Eine Studie empfiehlt, im Osten nur noch Ballungsräume zu fördern. Das empört die Ministerpräsidenten Ramelow und Haselhoff.
Die Ökonomen empfehlen unter anderem, die Wirtschaftsförderung im Osten auf Großstädte zu konzentrieren. Ramelow erwähnt 62 Hochtechnologiefirmen in Thüringen, viele davon in ländlichen Räumen. Wenn man dort Infrastrukturmittel streichen wolle, „wendet man die falsche Optik an“.
Aus der am Montag offiziell in Berlin vorgestellten 152-seitigen Publikation waren Kernaussagen schon vorab bekannt geworden. IWH-Präsident Reint Gropp hatte in einem MDR-Gespräch empfohlen, Fördermittel nicht mehr an ländliche Räume zu vergeuden. Wolle man den stagnierenden wirtschaftlichen Aufholprozess Ost überhaupt in Fahrt bringen, müsse man sich auf die Ballungsräume konzentrieren. In der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft seien die Städte „die zentralen Orte von Forschung, Innovation und Wertschöpfung“, heißt es in der Studie.
In der Publikation dreht sich vieles um den auf mindestens 20 Prozent bezifferten durchschnittlichen Produktivitätsrückstand Ost gegenüber westdeutschen Betrieben. Die Analysten machen dafür auch den Umstand verantwortlich, dass die meisten Konzernzentralen in Westdeutschland angesiedelt sind. Während dort etwa drei Viertel der Beschäftigten in Städten arbeiten, sei es im Beitrittsgebiet nur die Hälfte.
Arbeitsplätze nicht mit Subventionen erhalten
Arbeitsplätze, die mithilfe von Subventionen erhalten wurden, stünden „der Erhöhung der Arbeitsproduktivität im Wege“. In Zeiten des Fachkräftemangels sollte Wirtschaftsförderung deshalb „nicht um jeden Preis für Arbeitsplätze sorgen, sondern für Produktivitätssteigerung“. Der spezifische Fachkräftemangel Ost könne mit „attraktiven Wohn- und Arbeitsbedingungen“ überwunden werden.
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff hält insbesondere die IWH-Aussagen zu ländlichen Räumen für falsch. Sie betreffe immerhin 80 Prozent der Landesfläche, deren Bewohner man nicht von Fördermöglichkeiten ausnehmen dürfe. Durch Investitionen dort seien gute Arbeitsplätze etwa in Chemie- und Industrieparks entstanden.
Joachim Ragnitz hat lange am IWH gearbeitet und ist jetzt Ost-Experte der Niederlassung des ifo-Wirtschaftsforschungsinstituts in Dresden. Die „steilen Thesen“ der IWH-Studie bezeichnet er gegenüber der taz als „altbacken“. So sei die Subventionierung von Arbeitsplätzen im Zuge der Rettungs- und Ansiedlungspolitik der 1990er Jahre größtenteils Geschichte. Die empfohlene Aufgabe ländlicher Räume findet der Wirtschaftswissenschaftler „ganz schlimm“ und bringt soziale Aspekte ins Spiel. Deshalb glaubt er, dass die Politik „weitermachen wird wie bisher“.
Politische Gefahren durch einen Ost-Rückstand sieht auch VW-Vorstandsfrau Hiltrud Werner im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Die Frusthaltung vieler Ostdeutscher sei auch in den Betrieben spürbar und führe zu Sympathien für die Protestpartei AfD.
Die systematische Deindustrialisierung der Beitrittsländer nach der Währungsunion wertet sie als historischen Fehler in einer „bitteren Zeit“. Die IWH-Studie konstatiert wiederum eine deutlich verbesserte Arbeitsmarktlage im Jahre 30 nach der Wende in der DDR. Die Abwanderung sei per Saldo zum Stillstand gekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“