Urteil zum inhaftierten Kurdenpolitiker: Türkei soll Demirtaş freilassen
Die U-Haft des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş in der Türkei ist rechtswidrig. Doch Erdoğan denkt gar nicht daran, das EGMR-Urteil umzusetzen.
Die wiederkehrende stereotype richterliche Begründung für die Verlängerung der U-Haft diene dem Ziel, „den Pluralismus in der Türkei zu ersticken und die Freiheit der politischen Debatte zu begrenzen“. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, beide Seiten können dagegen innerhalb von drei Monaten Berufung einlegen.
Der Kontext
Selahattin Demirtaş, 45, ist der prominenteste und erfolgreichste politische Führer der Kurden in der Türkei. Weil er es schaffte, die kurdische HDP auch bei türkischen Linken und Liberalen populär zu machen, gelang es der HDP, erstmals die 10-Prozent-Hürde für das Parlament zu überspringen. Die Partei erreichte im Juni 2015 13,5 Prozent, was die AKP von Präsident Erdoğan bis zu den Neuwahlen im November desselben Jahres die absolute Mehrheit im Parlament kostete.
Erdoğan setzte daraufhin die „Friedensgespräche“ mit der kurdischen Guerilla PKK aus und versuchte, Demirtaş und die HDP wieder in die terroristische Ecke zu drängen. Nach dem Putschversuch im Juli und dem daraufhin verhängten Ausnahmezustand wurden Demirtaş und andere HDP-Parlamentarier im November 2016 verhaftet. Wegen Unterstützung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung fordert die Staatsanwaltschaft 142 Jahre Haft.
Obwohl die HDP auch bei den letzten Parlamentswahlen im Juni 2018 wieder den Sprung ins Parlament schaffte, ist sie durch die Verhaftung ihrer führenden Köpfe stark geschwächt und politisch kaum noch handlungsfähig. Jetzt hat der europäische Menschenrechtsgerichtshof quasi bestätigt, dass es der türkischen Regierung auch genau darum geht.
Die Reaktionen
Während die HDP-Fraktion in Jubel ausbrach, machte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan deutlich, dass er gar nicht dran denkt, den Urteilsspruch umzusetzen. Das Urteil sei für die Türkei „nicht bindend“, erklärte er gegenüber der staatlichen Presseagentur Anadolu. „Wir werden darauf reagieren und einen Schlusspunkt hinter die Angelegenheit setzen“, sagte er weiter. Ob damit gemeint ist, gegen das Urteil Berufung einzulegen oder ob Erdoğan die Mitgliedschaft der Türkei im Europarat gleich ganz beenden will, blieb erst einmal offen.
Die Konsequenz
Eigentlich müsste die Europäische Union die Weigerung der Türkei, das Straßburger Urteil umzusetzen, angemessen sanktionieren. Ob die EU sich dazu aufrafft wird man bereits am Donnerstag sehen können, wenn EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und Erweiterungskommissar Johannes Hahn zu einem lange geplanten Besuch in Ankara eintreffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch