Kommentar Haftbefehl von Chemnitz: Keine Gefahr für den Rechtsstaat

Die Veröffentlichung des Haftbefehls von Chemnitz ist vor allem: unbedeutend. Die Aufregung darum hilft den Rechten bei ihrer Propaganda.

In Chemnitz gedenken Kerzen, Blumen und Fotos an den ermordeten Daniel H.

Leider in den Hintergrund geraten: In Chemnitz wurde ein Mann erstochen Foto: ap

Ist das gezielte und vorzeitige Öffentlichmachen des Haftbefehls wegen der tödlichen Messerstiche von Chemnitz ein „neuer Justizskandal in Sachsen“ (Süddeutsche Zeitung)? Wird hier der „Rechtsstaat vorgeführt“ (Spiegel Online)? Ist der Rechtsstaat gar „in Gefahr“ (Deutscher Richterbund)? Nein, hier wird völlig übertrieben. Das ist nicht nur in der Sache ärgerlich, sondern auch gesellschaftlich kontraproduktiv.

In Chemnitz wurde ein Mensch erstochen. Und worüber regen sich die Verteidiger des Rechtsstaats fast am meisten auf? Dass der Haftbefehl gegen die mutmaßlichen Täter im Internet veröffentlicht wird, mit Klarnamen und Wohnadresse. Ja, das ist verboten. Aber jeder, der eins und eins zusammenzählen kann, weiß, dass dies etwas mit der Konstellation zu tun hat: dass Rechte versuchen, die Tat für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Man kann sich andere Konstellationen vorstellen, in denen die Medien von einem durchgesickerten Haftbefehl wenig Aufhebens machen würden und sich eher über die unverhoffte Informationsquelle gefreut hätten. Der Vorwurf der Rechten, es gebe hier ein Ablenkungsmanöver der „Gutmenschen“, um vom eigentlichen Skandal, der so genannten „Ausländerkriminalität“, abzulenken, wird daher in weiten Teilen der Gesellschaft auf fruchtbaren Boden fallen. So einfach sollte man es rechter Propaganda nicht machen.

Dennoch ist der Vorwurf des Ablenkungsmanövers falsch. Denn er unterstellt, dass man schon wüsste, was überhaupt passiert ist. Das ist aber gerade nicht der Fall. Die Rechten verbreiten Gerüchte, die die Polizei schon seit Tagen als falsch bezeichnet. Es gebe keine Belege dafür, so die Polizei, dass die mutmaßlichen Täter eine Frau sexuell belästigt haben und das spätere Opfer der Frau zu Hilfe kam. Die Rede ist dagegen von einem eskalierenden Streit zwischen zwei Männergruppen. Das wüsste man natürlich gerne genauer. Auch der Haftbefehl schildert nichts Konkretes. Doch wenn zwei Gruppen streiten und es am Ende ein Opfer gibt, ist auch an Notwehr zu denken. Der Fall ist ein gutes Beispiel dafür, welchen Wert die Unschuldsvermutung hat. Wer weiß, wie der Fall in einigen Wochen aussieht.

Das ist kein Whistleblowing

Auch die rechte Erzählung, der Leak des Haftbefehls sei ein Akt des „Whistleblowing“, liegt daneben. Wo ist denn der Misstand, der hier aufgedeckt wird? Alles, was im Haftbefehl steht, wäre früher oder später ohnehin veröffentlicht worden (außer den Namen und Adressen natürlich). Niemand hätte unter den Teppich gekehrt, dass der irakische Verdächtige bereits Vorstrafen hatte und in Deutschland nur geduldet war. Nicht jede vorzeitige Information der Öffentlichkeit ist also ein Whistleblowing.

Der Bremer Bürgerschaftsabgeordnete Jan Timke soll einen der Chemnitzer Haftbefehle auf Facebook veröffentlicht haben. „Wir haben einen Hinweis bekommen“, sagte Oberstaatsanwalt Frank Passade am Donnerstag. Die Ermittler durchsuchten nach einem Bericht von Radio Bremen am Mittwoch die Wohnung des Abgeordneten in Bremerhaven. Timke habe den Haftbefehl inzwischen von seiner Facebook-Seite entfernt, sagte Passade. Timke ist Bundespolizist und Mitglied der rechten Wählervereinigung Bürger in Wut. (dpa)

Umgekehrt ist aber auch nicht zu erkennen, worin nun die große Gefahr für den Rechtsstaat liegen soll. Der Haftbefehl wurde veröffentlicht, nachdem die mutmaßlichen Täter festgenommen wurden. Hier wurde also keine Polizeiaktion gefährdet. Die Informationen sind so spärlich, dass sie spätere Schöffen oder Zeugen eines Prozesses kaum beeinflussen können. Die vorzeitige Veröffentlichung eines Haftbefehls mag zwar strafbar sein, in der Rechtsprechung hat sie bisher aber keine Rolle gespielt. Dass in manchen verbreiteten Versionen Namen und Adressen (auch von Zeugen) nicht geschwärzt wurden, verletzt zwar Persönlichkeitsrechte, wäre für sich, also ohne Verbindung zu einem Dokument des Strafverfahrens, aber nicht strafbar.

Bleibt der Vorwurf, dass der Leak einmal mehr die rechte Unterwanderung der sächsischen Polizei oder gar der sächsischen Justiz zeige. Doch auch das sind erst mal nur Spekulationen. Um einen Haftbefehl zu fotografieren und weiterzugeben, ist genau eine Person erforderlich, vielleicht ist es „nur“ ein Sekretär oder eine Sekretärin. Niemandem ist damit gedient, Weimarer Endzeit-Szenarien zu befeuern. Die Rechten sind schon irre genug.

Die Strafverfolgung sollte sich auf die konzentrieren, die aus rechten Demos heraus Menschen aufgrund ihrrs Aussehens angreifen und jagen. Die Veröffentlichung und Verbreitung des Haftbefehls ist dagegen nur ein ziemlich unbedeutender Nebenschauplatz.

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Geboren 1965, Studium in Berlin und Freiburg, promovierter Jurist, Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe seit 1996 (zZt Vorstandsmitglied), Veröffentlichung: „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).

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