piwik no script img

Streitschrift zur Ost-IntegrationTolle Straßen, leere Landschaft

Warum sind die Ostdeutschen so unzufrieden? Petra Köpping hat Geschichten eingesammelt und der tiefen Enttäuschung nachgespürt.

Landstraße und Radweg bei Fürstenwerder Foto: imago/Steinach

Ein Buch, das den Osten behandelt; das aber, anders als die meisten Publikationen zu diesem Megathema, etwas fordert: interessant. „Integriert doch erst mal uns!“ heißt Petra Köppings „Streitschrift für den Osten“. Dieser Tage kennt man derlei Ausrufezeichen-Semantik aus Gegenden, wo das Grundgesetz als Sondermüll betrachtet wird und die, die mit Nazis auf die Straße gehen, sich ein zweites 1989 herbeihalluzinieren.

Petra Köppings „Integriert doch erst mal uns!“ setzt derlei ein kantiges „Denkste!“ entgegen. Die Frau weiß, wovon sie schreibt. Die SPD-Politikerin ist Staatsministerin für Gleichstellung und Integration in Sachsen. Als sie ihr Amt 2013 antrat, begannen in Dresden, einen Steinwurf vom Landtag entfernt, die Pegida-Demonstrationen. Köpping ging hin, um mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen. Die beschimpften die Frau als Vertreterin „des Systems“, dem die Flüchtlinge wichtiger seien als sie. „Integriert doch erst mal uns!“ war ein Satz, der immer wieder kam.

Köpping erwiderte mit einer Gegenfrage. „Wer sind Sie?“ „Und fast in allen Fällen war recht schnell nicht mehr die ,Flüchtlingsproblematik' das alles entscheidende Thema“, schreibt Köpping. „Es ging um etwas viel tiefer Liegendes. Fast alle Gespräche endeten mit den persönlichen Erlebnissen während der Nachwendezeit. Obwohl seitdem fast 30 Jahre vergangen sind, offenbarten sich unbewältigte Demütigungen und Ungerechtigkeiten, die die Menschen bis heute noch bewegen, unabhängig davon, ob sie sich nach 1990 erfolgreich durchgekämpft haben oder nicht.“

„Durchgekämpft“ – was für ein trauriges Wort für einen offiziell zum historischen Glücksfall erklärten Vorgang wie die deutsche Wiedervereinigung. Warum begreifen sich so viele Ostdeutsche noch immer als Verlierer? Petra Köpping unternimmt den Versuch einer Erklärung. Und sie entwirft einen Plan, wie die ostdeutsche Seele geheilt und mit dem Westen versöhnt werden könnte. Die Wehleidigkeit der Ostler will sie ummünzen in die selbstbewusste Forderung nach Teilhabe.

Das Buch

Petra Köpping: „Integriert doch erst mal uns!“ Ch. Links Verlag, Berlin 2018‚ 208 Seiten, 18 Euro

In sechs Kapiteln beschreibt sie das Defizit der Ostdeutschen. Buchstäblich jeder hat die Wende als persönlichen Umbruch erlebt. Dass damit für viele eine Erfahrung des Scheiterns verbunden ist, liegt vor allem an der Treuhand-Anstalt. Der damalige Kanzler Helmut Kohl (CDU) nannte die Behörde „alternativlos“. Von seinen großspurig in Aussicht gestellten „blühenden Landschaften“ sind heute in weiten Teilen Ostdeutschlands Regionen mit überalterten Bewohnern geblieben, der Staat hat sich zurückgezogen. Das Ganze durchzogen von tipptopp EU-finanzierten Straßen, die ins entvölkerte Nichts führen.

Man hört derlei nicht gern. Wo bleibt die Dankbarkeit, fragen sich die Westdeutschen, wo der Optimismus? Köpping nimmt auch diese Fragen in den Blick. Sie schreibt, den Ostdeutschen sei „nicht zugehört, ihre Lebensgeschichte nicht gewürdigt worden“. Damit legt sie den Finger auf den Triggerpunkt der gestörten Ost-West-Beziehung: Seit 1990 wird die Wiedervereinigung als Erfolgsgeschichte verkauft. Niederlagen werden beiseitegeschoben mit dem Argument, die Ostler hätten sich den Westen doch gewünscht.

Köpping legt den Finger auf den Triggerpunkt der gestörten Ost-West-Beziehung

Zugleich – und das macht dieses Buch zum Glücksfall – entlässt Köpping ihre Leute nicht aus ihrer Verantwortung als Demokraten. „Alle schlechten Erfahrungen entschuldigen keine faschistischen Positionen“, stellt Köpping klar. Es ist ein Satz, der gerade dieser Tage auf den Plätzen von Chemnitz, Heidenau oder Köthen in den ostdeutschen Himmel geschrieben werden sollte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

18 Kommentare

 / 
  • "Warum begreifen sich so viele Ostdeutsche noch immer als Verlierer?"

    Wem nach der Wende als Ostdeutschem mit westdeutscher Herablassung begegnet wurde, dem war von Anfang an der Stempel des Verlierers aufgedrückt. Die weltläufige Offenheit, die den Westdeutschen von ihren ostdeutschen Mitbürgern bis dahin gutgläubig unterstellt worden war, erwies sich als Märchen. Die Enttäuschung über die erfahrene Arroganz prägte und verstärkte im Laufe der Jahre die Sensibilität und wurde begleitet von immer verbitterteren Erlebnissen mit Treuhand und deren Umgang auch mit gut auf dem internationalen Markt etablierten Ostfirmen. Und dann musste natürlich auch noch ein "Westler" denen zeigen, wie man erfolgreich "wörkt".

    Aus meiner Sicht war die unter Kohl und Treuhand so bedenkenlos zerstörte Lebensgrundlage der ostdeutschen Bevölkerung einer der wichtigsten Gründe, weshalb sie sich derart entfremdet haben und sich innerlich immer weiter traumatisiert "vom Westen" entfernte.

    Ich habe jahrelang den Kopf geschüttelt und mich geschämt, das vom Westen aus machtlos miterleben zu müssen.

  • War gerade in Demmin in Meckpomm, sehr viele Leute pendeln dort. Ein Werftarbeiter z.B. über 400 km bis nach Bremen. Trotzdem möchten sie dort bleiben, wo sie aufgewachsen sind, ihr soziales Umfeld haben. Selten mussten Westdeutsche in dem Ausmaß Veränderungen akzeptieren, für den unvermeidlichen Niedergang der Kohle hatten sie seit den 60ern Zeit.

    Siehe auch www.zeit.de/2018/2...en/komplettansicht

  • Osdeutschland verzeichnet überall Spitzenpositionen. Bei den Arbeitslosenzahlen, Überalterung, Wohnungsleerstand ... bildhaft deutlich ableßbar in Karte wie man sie bei vielen Themen selber findet wenn man die Begriffe „XYZ“, „Deutschland“ und „Karte“ ergoogelt.

    Da passiert einfach nichts mehr. Die Menschen ziehen weg. Eine Wirtschaftsförderung, regionale Wirtschaftspolitik, Raumordnung auf Bundesebene findet nicht mehr staat. Nur noch Eigeninteressen der Bundesländer werden gesehen. Und als Eigelb im Ostdeutschen Eiweiß schwimmt ausgerechnet die Bundeshauptstadt.

    Mit Integration hat das Problem wenig zu tun. Das ist einfach nur das Unvermögen der Politik eine gleichwertige Raumordnungspolitik zu machen.

  • An Frau Köpping:

    Wo sind - neben Ihnen und einigen anderen sehr engagierten und leider auch mutigen Politiker_innen - die anderen geschätzt 10% der ehemaligen DDR-Bürger_innen, die sich "integrieren" konnten und sich für eine gerechte, offene, pluralistische, freie Welt in (ganz) Deutschland aktiv einsetzen?

    Warum macht hier auf ehemaligen DDR-Boden kaum einer in der Richtung (insbesondere auch im Alltäglichen) die Klappe auf? Die Erfahrungen der vergangenen 30 Jahre und Vorstellungen für eine bessere Zukunft liegen doch bei Ihnen! Die "Wessis" ohne diese Erfahrung können oder sollen doch nicht schon wieder für diese Menschen agieren, oder?! Ideen sollten jetzt mal vom Osten kommen. Vielleicht hört dann auch mal wieder jemand anderes zu, wenn es nicht immer nur um Jammern geht. Vorschläge bitte, Pläne und Ziele, was die Entwicklung der Gesellschaft angeht!

    • @Hanne:

      Ergänzung:

      Es gibt gerade in der Ost-SPD auch sehr tolle Menschen und aktive Politiker_innen. Frau Köpping ist eine davon. Leider wird die SPD in Ost-Deutschland kaum gewählt.

      Jeder in Sachsen weiß, dass in Leipzig ein anderer, freundlicherer Wind weht als in Dresden. Leipzig ist wie München traditionell SPD, das Land Sachsen bekanntermaßen seit der Wende tief braun-schwarz, Dresden hat mit viel Gegenwind aktuell einen ersten bzw. noch einen rot-grün-roten Stadtrat. Warum wählen die Sachsen nach fast 30 Jahren nicht einfach mal zur Abwechslung in ihren Landtag SPD und GRÜNE mit Koalitionsmehrheit? Andere Bundesländer schaffen auch ab und zu mal einen Farbwechsel in der Landesregierung. Gebt Ihnen 8-12 Jahre, dann können andere oder andere Konstellationen wieder ran. Aber nein, in Sachsen scheint so was nicht möglich. Da läuft es eher nach dem Motto: Schlimmer geht immer. Lieber CDU mit AfD, als CDU mit LINKE.

      Wohldosierte Veränderung ist wichtig im Leben!

      Liebe Sachsen, geht in Gewerkschaften, fordert Eure Rechte ein, sprecht auch für andere, die es selbst vielleicht so nicht können, engagiert Euch, seid offen und verfolgt ein nettes Ziel für diese Gegend im Südosten der Republik. Ihr habt fast alles, nur eben etwas zu wenig Freude am Leben. Dieser Hass und der fehlende Spaß hier ist im Alltag deutlich zu spüren, lässt sich aber sicher nicht(ausschließlich) mit Eurer DDR-Vergangenheit erklären. Denn es gibt ja dankenswerterweise noch andere Bundesländer im "Osten" - und auch andere Menschen mit den gleichen Erfahrungen und mehr Freude am Leben in der jetzigen Gesellschaft.

      • @Hanne:

        Klare, konstruktive Beiträge wie diesen finde ich gut. Wer anderer Meinung ist, kann ja widersprechen. Der Dresden-Leipzig Vergleich entspricht meinen Erfahrungen, obwohl Dresden - Neustadt kreuzbergähnliche Looks u Lockerheit enwickelt hat, die sexy Saxon street credibility (wie ich das als angel-Sachse sagen würde).

  • Petra Köpping will offenbar noch etwas werden. Die Forderung: „Integriert doch erst mal uns!“ lässt sie vorsichtshalber Dritte vortragen. Als eigene Meinung tut sie lediglich kund: „Alle schlechten Erfahrungen entschuldigen keine faschistischen Positionen.“

    Das werden viele Leute gerne lesen, schätze ich. Leute mit und ohne politische, organisatorische oder ökonomische Verantwortung, aber vor allem Leute aus dem Westen. Petra Köpping erklärt erst alle anderen und dann erklärt sie sich gleich hinterher – nur, dass nicht aus Versehen Zweifel aufkommen darüber, wem sie sich mehr verbunden fühlt.

    Aber das könnte ihnen so passen, den Leuten, die den Schlammassel zu verantworten haben! Weil sie es waren, die entschieden haben und niemand anderer. Weil sie ignorant gewesen sind und arrogant, niemand sonst. Weil sie zwar alles besser gewusst aber kaum etwas besser gemacht haben.

    Ich gebe zu: Es ist nicht leicht, die Menschen, die nicht lernen wollen, von denen zu unterscheiden, die nicht lernen können. Und trotzdem halte ich hier fest: Opfer sind nicht verantwortlich zu machen für die Folgen ihrer Traumatisierung. Verantwortlich sind die, die das Trauma verursacht haben. Wenn Diese-Welche mit dem Fing er auf die Folgen ihres Tuns bzw. Unterlassens zeigen und dazu kreischen: „Das waren DIE!“, ist das ein Zeichen von Verantwortungslosigkeit, die ihrerseits nur entweder auf Denkfaulheit basieren kann oder auf einem eigenen Trauma.

    Wir sollten besser miteinander reden, finde ich, statt übereinander. Wir sollten uns das jeweils eigene Leben erzählen, und zwar ohne zuvor erst langatmig die Hackordnung geklärt zu habene. Es gibt keine Opferhierarchie und es braucht auch keine zu geben. Jeder von uns kann für sich selbst sprechen. Es reicht, wenn wir einander respektieren in unseren jeweiligen Gefühlen und Erfahrungen – und anschließend gemeinsam Wege aus dem Dilemma suchen.

    Eins allerdings muss uns klar sein: Tun wir das nicht, trifft uns die Schuld für alle bösen Folgen.

    • @mowgli:

      Wer zeigt denn nun auf wen mit dem Finger?

      "Aber das könnte ihnen so passen, den Leuten, die den Schlammassel zu verantworten haben! Weil sie es waren, die entschieden haben und niemand anderer. Weil sie ignorant gewesen sind und arrogant, niemand sonst. Weil sie zwar alles besser gewusst aber kaum etwas besser gemacht haben."

      Einfacher und unreflektierter geht es wohl nicht.

      Ich wünsche mir von den Betroffenen einen kreativen Zielplan, in den sie sich selbst mit einbinden. Mit diesem kann dann weiter gearbeitet werden.

      Es kommt niemand und hilft einem, das geht Behinderten und Migranten und Missbrauchsopfern auch so. Es bleibt den meisten gesellschaftlichen "Randgruppen" nicht viel anderes übrig als sich einerseits zu intergrieren und andererseits auch für ihre Rechte und Ziele politisch zu arbeiten und zu kämpfen und für eine nettere Welt überhaupt, insbesondere aber vor Ort in D.

      Was meinen Sie, was z.B. selbstbestimmte Behindertenverbände über viele, viele Jahre über bis heute tun müssen? Ja, sie müssen sich nach wie vor Gehör verschaffen und sich gleichzeitig auch kreativ und produktiv in die Politik einmischen und mitarbeiten. Und das OHNE viel Geld, mit viel Engagement und vielen Traumata.

      Ich habe den Eindruck, dass viele Ex-DDRler immer noch auf was warten, ohne selbst aktiv zu werden und sich als alleiniges Opfer dieser Gesellschaft fühlen und auch gerne pauschal gegenüber Westlern aggressiv auftreten.

      Es gibt hier in Sachsen Lehrer, die offen zu Beginn eines Schuljahres in einer neuen Klasse direkt erklären, dass sie was gegen Wessis und Ausländer haben. Sorry, geht's noch? Das finden sogar die meisten Ost-Eltern nach fast 30 Jahren nicht mehr lustig.

      • @Hanne:

        In fast jedem Elternabend unserer Kinder bemerken wir die Aversion der autochtonen Eltern gegenüber uns Westeltern, die glauben, man kann Probleme einfach in der Runde ansprechen. Das ist nicht gewünscht und außer Lob und Unterwerfung kommt von den anderen Eltern nichts. Das passiert dann nur im Zweiergespräch, wird aber die offen besprochen mit dem Ziel einer Aushandlung oder Lösungssuche. Und fast niemand hält es aus, wenn wir Dinge ansprechen.

  • Man muss ganz klar sagen, die Leute in der ehemaligen DDR sind definitiv vom



    Westen über den Tisch gezogen worden!

    Aber nicht ausschließlich durch die Politik, sondern in erster Linie durch die Westdeutsche Wirtschaft, Industrie und den Banken!

    Kleines Beispiel:



    Ein sehr guter Kumpel unseres ehemaligen kurzzeit Bundespräsidenten schickte seine Schergen in den Osten und drückte jedem Lehrling Versicherungsverträge auf die Ohren, so dass er das doppelte seines Lehrgehaltes hätte aufbringen müssen, um diese zu zahlen!



    Der Staat wiederum stand zu dieser Art Praktiken, denn die Leute müssen wissen was sie Unterschreiben!



    Dort wurde Abgezockt ohne wenn und aber und Vater Staat machte mit, denn schon damals waren die Lobbyisten, die den Weg des Ostens vorzeichneten in der Oberhand, gegenüber der Politiker, die versuchten etwas vernünftiges aufzubauen.



    Wer selbst Anfang der 90 iger im Osten war, hat es überwiegend mit sehr freundlichen, aktiven Menschen zutun bekommen, die alles versuchten auf eigene Beine zu kommen!

    Da die Treuhand aber Vermögen und sogar sich Selbst tragende, ehemalige Ostbetriebe für teiweise Beträge, wie z.B. "Eine Mark" für ein gut laufende ehemalige Spenglerei, die allerdings ein Staatsbetrieb war, versilberte, 16 Menschen von Heute auf Morgen grundlos der Arbeitslosigkeit überantwortete, der muss sich nicht wundern, dass eben diese Menschen sich übervorteilt fühlen!

    Den Ärger der Ostdeutschen kann man direkt nachvollziehen und auch Beweisen, weshalb so viele Menschen verärgert sind, aber was überhaupt nicht zu verstehen ist, ist das Nachlaufen so vieler Ostdeutscher hinter den Rechtsradikalen und den Nazis!

    Auch der Ostdeutsche weis, was ab 1933 in Deutschland durch die Nazis verbrochen wurde, weshalb nicht erklärt werden kann, wir wollen doch nur auf unsere Misere aufmerksam machen, denn das ist Aufruf zum verfolgen Andersdenkender bis hin zum Umbringen jener, auf Grund der eigenen Misere, die man nicht bewältigen kann oder will!!!

    • @urbuerger:

      Über den Tisch gezogen? Na dann doch wohl eher über den Tisch gesprungen. Ich erinnere noch gut die Diskussionen Anfang 1990 wie man einen geordneten Systemwechsel organisiert der einige durchaus vorhandenen Systemvorteile des Ostens in das West-System einbringt. Ich erinnere aber auch, dass der überwiegende Teil der DDR-bewohner den Systemanschluss mit schneller D-Mark-Einführung und gesponsortem Umtauschkurs wollte. Wenn schon große Bevölkerungsschichten im Westen sich vom finanzkapitalistischen Wirtschaftssystem abgehängt fühlen, wie muss es dann erst den "Neubürgern" gehen. Ihre Ablehnung des Systems ist gut nachvollziehbar. Die resultierende Stärkung des rechten Randes ist einem Versagen der Linken Alternative zuzuschreiben. Hätten die ewig gestrigen "Linksfaschisten" die richtigen Themen besetzt, hätten wir heute eine Mehrheit links der Mitte und eine andere Gesellschaft.

    • @urbuerger:

      Nur mal zur ergänzenden Erinnerung: Die DDR war der selbst ernannte antifaschistische, deutsche Staat. Zum Schutz gegen den "faschistischen" Westen wurde schließlich 1961 auch der Antfaschistische Schutzwall gebaut (im Westen "Mauer" genannt). de.wikipedia.org/w...tischer_Schutzwall

      Diese Selbsteinrederei des antifaschistischen Staates geht bis heute. Es gibt z.B. den Fall eines sächsischen Lehrers, der mit einer 10. Klasse am Ende des Schuljahres Anti-Nazifilme schauen wollte. Als ein Schüler meinte, dass er die alle schon kenne, fragte der Lehrer woher.Der Schüler antwortete, dass er die alle schon mit seiner Mutter gesehen habe. Das wiederum glaubte der Lehrer nicht, weil im bekannt war, dass die Mutter ursprünglich aus dem Westen kommt (...und da schaut man ja keine Anti-Nazi-Filme, da gibt es ja nur Faschisten...)

      Und gleichzeitig laufen in Sachsen überall stolz ebenso selbst deklarierte Neonazis und Rechtsextreme rum.

      Hier noch ein interessanter Link zu einem aktuellen Radiointerview mit Harry Waibel:



      radio-frei.de/inde...l&kartikel_id=7167

      Die wenigen, echten humanistischen Antifaschisten, die sich noch im ehemaligen DDR-Gebiet aufhalten, stehen ziemlich alleine da. Siehe auch Interview der taz mit einem Jugendsozialarbeiter aus Grimma:



      www.youtube.com/wa...=915&v=wAVrEgzXaVM

      Das Problem mit dem Osten ist sehr komplex und das einzige was klar ist, dass endlich mal was langfristig angepackt werden muss. Und das wird neben Jobs auch anderweitig Geld kosten. Geld, was z.B. auch in Duisburg investiert werden muss.

  • Vereinfachen ist immer toll und im nachhinein ist man klüger.

    Auch die große Mehrzahl in der BRD haben es so gewollt. Die Mahnungen von Lafontaine wollte damals niemand hören. Alles Jubel und Fröhlichkeit und blühende Landschaften. Nationalbesoffene Fassade und im Hintergrund startete die große Plünderung.

  • Von mir aus können wir das Experiment "Wiedervereinigung" als beendet erklären. Die DDR kann sofort wieder anfangen zu existieren, die Trennungsmodalitäten dürften einfacher verlaufen als die Vereinigungsvereinbarungen.

    Wäre zwar für uns Westdeutsche ein ziemliches Minusgeschäft (zumindest für den normalen Steuerzahler, der nicht von der Treuhand profitierte), aber das gleicht sich wahrscheinlich schon in einigen Jahren aus.

    Niemand muss integriert werden, der nicht integriert werden will.

    • @Age Krüger:

      "Niemand muss integriert werden, der nicht integriert werden will."

      Ein schwieriges Statement. Das kann auch umgekehrt verwendet werden.



      Frust ist meist nicht zielführend, gleich auf welcher Seite.

    • @Age Krüger:

      Vielleicht wäre das wirklich mal zu durchdenken, in dem Sinne, dass nach 30 Jahren vielleicht doch noch nachgeholt werden würde, was damals eigentlich zur Emanzipation der DDR wichtig gewesen wäre: Einen eigenen, unabhängigen demokratischen Rechtsstaat aufzubauen.

      Es gab viele im Westen, die genau das auch so sahen: Gebt den Menschen dort die Chance sich ein neues System aufzubauen. Es wurden doch regelrecht ALLE deutschen Bürger/innen mit der viel zu schnellen Wiedervereinigung "überfallen". Da kam keine/r mit. Und Verwandtschaft ehemals hinter der Mauer hätte man dann ja auch so besuchen können.

      Ich verstehe das eigentlich bis heute nicht, habe aber damals nicht viel drüber nachgedacht, weil zu jung und ohne Bezug zu dem Land hinter der Mauer. Aber wenn ich mir das heute rückblickend und vor Ort so ansehe und erlebe, kann ich nur sagen, dass die schnelle Wiedervereinigung ein großer Fehler war, indem eine große Chance vertan wurde. Die "gefallene" DDR hätte ein großes, reelles Planspiel für alle Bürger/innen der ehemaligen DDR werden können. Und in den paar Monaten zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung ist ja auch schon sehr viel geschehen und gewachsen. War dann eben nach der ersten und freien Wahl in der DDR null und nichtig.

      Nur heute wüsste ich nicht, ob aufgrund der oft "zelebrierten", schlechten Erfahrungen der Wiedervereinigungsopfer nicht ein Orban-ähnlicher Staat aus dem heutigen Gebiet werden würde. Ich kenne sehr viele, die Demokratie verstehen und pluralistisch leben können und wollen, aber als Mehrheit sehe ich sie hier leider auch nicht. Das ist sehr, sehr schade. Und das meine ich ernst.

  • Integration als passive Leistung?

    Ich halte sehr viel von Frau Köpping, aber es gibt eben nicht nur Ostdeutsche mit persönlichen Brüchen in Deutschland. Da gibt es noch viel mehr Ereignisse quer durch die Gesellschaft, die einem in die Queere kommen können.

    Und mit den Renten geht es den ehemaligen DDR-Arbeitern besser als West-Deutschen.

    Und ja: Sie haben sich den Westen so sehr gewünscht! So sehr, dass Bündnis 90 bei der entscheidenden Wahl beinahe nicht gewählt wurde und die CDU dafür umso massiver. Kohl war gewollt! Und das wurde demokratisch noch in der DDR so entschieden. Bündnis 90 hatte auf dem Schirm, dass die Treuhand nichts Gutes bringen würde. Aber solchen "Spaßverhinderern" hört man ja im allgemeinen nicht zu. Weder im Osten noch im Westen.