Als der Hafen Heimat
fraß

Wo heute Europas modernstes Containerterminal steht, lebten jahrhundertelang die Fischer von Altenwerder. 1996 gab ein Gericht das Dorf zum Abriss frei – zugunsten der Erweiterung des Hamburger Hafens. Wie nachhaltig die war, ist heute unklar

Protest und Niederlage: Nach dem Beschluss, Altenwerder zu räumen, wurden etliche Häuser abgerissen – auch gegen Widerstand. 1989 standen noch elf, die letzten Bewohner waren 1998 weg Foto: Fotos (5): Günter Zint/Panfoto

Von Sven-Michael Veit

Da liegen sie, die Symbole des globalisierten Warenverkehrs: Container, hoch aufgestapelt, bis zu 30.000 Stahlkisten neben- und übereinander, rund drei Millionen übers Jahr. 110 Meter hohe Containerbrücken gleiten mit tonnenschweren Boxen in den stählernen Klauen vom Schiff zum Land, vom Land zum Schiff. Vom Moorburger Berg, einem 22 Meter hohen Hügel aus ausgebaggerten Hafenschlick, hat man einen unverstellten Blick auf das Containerterminal Altenwerder an der Süderelbe, das dort liegt, wo seit Mitte des 13. Jahrhunderts das Fischerdorf Altenwerder stand.

Viele Linke fanden hier ihre Lieblingsklischees: böse Bosse und korrupte Politiker gegen die, die in reetgedeckten Fachwerkhäuschen vom biodynamischen Leben träumten

Seit 16 Jahren ist das Terminal, das noch immer als das modernste und digitalste in Europa gilt, in Betrieb, aber erst im Juni 2014 wies das Verwaltungsgericht Hamburg die letzte Klage gegen den Bau ab: Dem Hafen, das ist die Konsequenz, hatten das Dorf und seine Einwohner zu recht weichen müssen.

Einer von ihnen war Heinz Oestmann, der Fischer, der vorigen Montag mit 68 Jahren gestorben ist. In den 1970er- und 1980er-Jahren war er zur Ikone im Kampf um das Bauern- und Fischerdorf Altenwerder an der Süderelbe geworden, der eine der Keimzellen der Ökologiebewegung war, nicht nur in Hamburg. Viele Linke und Alternative fanden hier ihre Lieblingsklischees: böse Bosse und korrupte Politiker, die aus Profitgier Natur und Traditionen zerstören, einerseits; reetgedeckte Fachwerkhäuschen am Fluss, Fischerboote, Schafherden und Obstbäume, die vom autarken biodynamischem Leben träumen ließen, andererseits. Das Altenwerder Fischerfest im Sommer war über mehr als ein Jahrzehnt der Karneval des Widerstandes, Treffpunkt und Infobörse der norddeutschen Umweltbewegung: für saubere Flüsse und Meere, für gesundes Essen, gegen Atomenergie. Für den Erhalt des Dorfes etwa demonstrierten hier im August 1981 rund 60.000 Menschen an und auf der Elbe.

Zunächst wuchs Altenwerder dann sogar: Bauwagen rollten an, WGs und Kommunen wurden gegründet, Latzhosen und Rauschebärte waren allgegenwärtig. Hatten im Jahr 1987 noch 76 Menschen dort gelebt, waren es fünf Jahre später 421 – und zur Jahrtausendwende dann niemand mehr.

Auch die Hamburger Grünen, als Grün-Alternative Liste (GAL) gegründet und 1982 erstmals in die Bürgerschaft eingezogen, sind programmatisch und in ihrer personellen Erstbesetzung ohne Altenwerder nicht zu denken: Ebenso wie Oestmann wurde die Moorburger Lehrerin Thea Bock, die viele Jahre für die Grünen in der Bürgerschaft saß und später für die SPD im Bundestag, zur Symbolfigur des Widerstands; der sprachgewaltige Thomas Ebermann, ebenfalls zeitweise Abgeordneter in Bürgerschaft und Bundestag, gehörte dazu, auch Angelika Birk, später grüne Wohnungsbauministerin in Schleswig-Holstein. Ulla Jelpke sitzt nach ihrer Hamburger Politzeit inzwischen für die NRW-Linke im Bundestag. Und nicht zuletzt Krista Sager, die es in Hamburg als erste Grüne bis zur Zweiten Bürgermeisterin brachte sowie auf Bundesebene zur Parteichefin und Fraktionsvorsitzenden im Bundestag.

Sie alle kamen und gingen, Heinz Oestmann aber, der 1950 in Altenwerder geboren wurde, blieb solange wie möglich. Erst 1997 nahm er die staatliche Entschädigung in Höhe von 600.000 Mark an und siedelte nach Finkenwerder über, ein paar Kilometer weiter westlich, ebenfalls an der Elbe. Kurz zuvor, am 23. September 1996, war das Todesurteil für Altenwerder verhängt worden: Das Dorf dürfe ab sofort von Baggern zerstört und in ein Containerterminal verwandelt werden, verkündete damals das Hamburgische Oberverwaltungsgericht (OVG), das damit den Baustopp aus erster Instanz aufhob. Die Abwägung zwischen den konkurrierenden Belangen sei „in allen Punkten rechtsfehlerfrei“, befand das OVG. Altenwerder sei als Hafenerweiterungsgebiet ausgewiesen, eine andere Nutzung als zu Hafenzwecken sahen die Richter als früher oder später „unrealistisch“ an.

Sogar die im Bundesnaturschutzgesetz geregelte Pflicht zu ökologischen Ausgleichsmaßnahmen fand das OVG nicht weiter relevant: Als dieses Gesetz verabschiedet wurde, habe die Planung für Altenwerder längst vorgelegen, weshalb es keinen Anspruch auf naturnahen Ersatz gebe. Es reiche, dass die in Aussicht gestellte Ersatzmaßnahme „möglich“ sei: die Öffnung des nach der Sturmflut von 1962 abgedeichten Altarms „Alte Süderelbe“. Eine Garantie dafür sei nicht nötig – außerdem könne die Vernichtung des Biotops auch durch Geldzahlungen beglichen werden.

So kam es dann auch: Die Aufwertung des Altarms erfolgte nicht, aber Geld floss. 2008 zog der Umweltverband BUND seine Klage gegen Altenwerder zurück, nachdem er einen Vergleich mit der Stadt geschlossen hatte: Die zahlte 5,9 Millionen Euro in eine Stiftung ein, die Ausgleichsflächen aufkauft und ökologisch aufwertet.

Unmittelbar nach dem Richterspruch begann die Planierung des 700 Jahre alten Fischerdorfes, 1998 wurde das letzte Haus abgerissen, 1999 startete der Bau des Terminals, der im Juni 2002 den Betrieb aufnahm. Übrig blieben einzig die Kirche St. Gertrud und die Gräber des Friedhofs. Umgeben von Erlen, Weiden und verwilderten Obstbäumen liegen sie wie Inseln in der Zeit zwischen dem Containerterminal und der Autobahn 7. Im Südosten dampft das Kohlekraftwerk Moorburg, in unmittelbarer Nachbarschaft drehen sich seit 2008 die beiden größten und stärksten Windkraftanlagen Hamburgs, 198 Meter hoch, sechs Megawatt Leistung, genug für 15.000 Haushalte.

Im Norden überspannt die Köhlbrandbrücke die Süderelbe, und damit die Zufahrt nach Altenwerder. Als sie im September 1974 für den Verkehr freigegeben wurde, war sie die zweitlängste Straßenbrücke Deutschlands, wegen ihrer unverwechselbaren Silhouette mit den beiden blauen Pylonen wurde sie nach dem Michel – und vor der Elphi – zum Hamburger Wahrzeichen. Inzwischen ist sie zum Problem geworden: Mit ihrer Durchfahrtshöhe von 53 Metern hängt sie für die Containerriesen der neuesten Generation zu niedrig, die Megafrachter mit ihren bis zu 60 Meter hoch gestapelten Stahlboxen passen nicht mehr darunter durch, nur mittelgroße Schiffe können das Terminal noch erreichen. Von einer Fehlplanung der Altvorderen will indes in der Hamburger Hafenwirtschaft niemand sprechen, wenngleich der mangelnde Weitblick früherer Technokratengenerationen die Stadt teuer zu stehen kommen wird: Bis 2030 muss ein Ersatz her, in der Diskussion sind einer höhere Brücke oder ein Tunnel.

Billig wird das nicht, aber die Vernichtung eines 750 Jahre alten Dorfes ist Hamburg ohnehin schon teuer zu stehen gekommen.