Kommentar Gaulands „Vogelschiss“: Der kalkulierte Tabubruch
AfD-Chef Alexander Gauland hat sich keinen Ausrutscher geleistet. Die Aussage zielt auf eine neue Konstruktion von Geschichte und Identität ab.

E inen „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte hat der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland die Naziherrschaft genannt. Ein Vogelschiss ist unangenehm. Man kann ihn aber abwaschen, und die Angelegenheit ist vergessen. So ähnlich stellt sich Gauland das wohl auch mit der Geschichte vor.
Gaulands Äußerung reiht sich in eine ganze Reihe von Stellungsnahmen aus den Reihen der AfD ein, die die Bezeichnung Hetze mit Fug und Recht verdienen. Nun sind die AfD-Herrschaften keine Neonazis. Sie sind klüger. Sie stellen den Mord an sechs Millionen Juden nicht infrage, sie bejubeln nicht Adolf Hitler. Sie relativieren. Da wird völkisches Denken für diskutabel erklärt. Deutsche Soldaten im Angriffskrieg werden zu tapferen Kämpfern. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin mutiert dagegen zum „Denkmal der Schande“.
Es ist also kein Ausrutscher, den sich Gauland geleistet hat. Es zählt zum Programm, überlebende Holocaust-Opfer und ihre Nachfahren zu beleidigen, für die die Nazijahre wohl kaum ein „Vogelschiss“ waren und die übrigens auch Deutsche sind. Und es ist Absicht, den Massenmord unter „ferner liefen“ verbuchen zu wollen – ein Tabubruch, kühl kalkuliert.
Denn die AfD verkauft diesen Geschichtsrevisionismus nicht deshalb, weil sie die NS-Zeit glorifizieren will. Ihr geht es vielmehr um eine neue Konstruktion von Geschichte und Identität. Das ergibt sich, wenn man Gaulands Satz, so schwer es auch fällt, insgesamt liest: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“, hat er gesagt. Der Satz ist natürlich völliger Blödsinn, wenn man bedenkt, dass sich die postulierte deutsche Geschichte in einer Unzahl kleiner Fürstentümer manifestierte, die eifersüchtig miteinander konkurrierten. Der kaum verdeckte Subtext aber lautet, dass die Deutschen als Nation wieder stolz auf diese Geschichte sein sollen und damit auf sich selbst.
Diese Art von Vaterlandsliebe hat den unschätzbaren Vorteil, dass sie den Liebenden das Denken abnimmt. Wenn die Deutschen stolz auf ihr Deutschsein sein dürfen, dann braucht es auch kein Nachdenken mehr darüber, wie sich Europa und die Welt gestalten ließen. Dann werden aus migrantischen Nachbarn die Anderen, die diesen Stolz nicht teilen können und die deshalb irgendwie minderwertig sind, jedenfalls, solange sie sich in Deutschland aufhalten.
Und dann sind wir ganz schnell bei Björn Höckes Vorschlag vom Wochenende, der Rentenzuschläge nur für Deutsche verlangt. Übrigens ist Höcke so freundlich, auch deutschen Juden seine Rentenerhöhung zuzugestehen, so viel hat er gelernt. Doch das bleibt völkische Politik in Reinform – die hatten wir schon einmal. Mit den Nazis aber haben diese Anwandlungen gewiss absolut gar nichts zu tun – oder am Ende vielleicht doch?
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte
Friedensforscherin
„Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Bildungsforscher über Zukunft der Kinder
„Bitte nicht länger ignorieren“