Kommentar 25 Jahre Lichtenhagen: Der Bruch der Zivilisation

Vor 25 Jahren sah die Nation vier Tage lang dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen zu. Könnte so etwas wieder geschehen?

Ein Plattenbauriegel vor blaßblauem Himmel, auf seiner Schmalseite prangen Sonnenblumenmosaike

Am Ort des Pogroms sieht es heute friedlich aus. Aber ist die Zivilgesellschaft wirklich gestärkt? Foto: dpa

Was vor 25 Jahren in Rostock-Lichtenhagen geschah, war nicht nur ein rechtsradikaler, rassistisch motivierter Überfall auf Migranten. Es waren auch nicht einfach Neonazis, die dort die Sonnenblumenhaus genannte Unterkunft für Vietnamesen angriffen. Es handelte sich um ein Pogrom.

Damals griff ein Mob aus Randalierern und Rechtsradikalen in aller Öffentlichkeit mit Brandsätzen und Steinen Menschen an und nahm dabei in Kauf, dass diese sterben könnten. Schaulustige Nachbarn applaudierten. Die Polizei sah tagelang nahezu tatenlos zu. Über 100 verängstigte Menschen entgingen nur knapp ihrem Tod.

Was in Lichtenhagen geschah, war ein Tabubruch. Erstmals seit dem Jahr 1945 glaubten die Täter und Gaffer tatsächlich und bestärkt von einer mindestens unfähigen Polizei, im Namen des Volkes brandschatzen und morden zu können. 25 Jahre sind seit dem Pogrom vergangen.

Die Zahl der seitdem geschehenen rassistisch und antisemitisch motivierten Brandanschläge, Morde und Mordversuche ist Legion. Als die taz zu den letzten Jahreswechseln eine Bilanz ziehen wollte, musste sie scheitern: Es waren zu viele einzelne Vorfälle, um diese alle in der gedruckten Zeitung dokumentieren zu können.

Damals galt in Deutschland das Blutrecht

Und doch hat sich einiges verändert seit Lichtenhagen. Damals weigerte sich Bundeskanzler Helmut Kohl, zu den Anschlagsorten in Mölln, Solingen oder Lichtenhagen zu fahren, um seine Solidarität mit den Angegriffenen zu bekunden. Stattdessen brachte er den mordbereiten Rassismus im Bundestag in Zusammenhang mit einer allgemein gestiegenen Kriminalitätsrate und verharmloste ihn so.

Da reagiert Angela Merkel anders.

Heute würde die Gesellschaft den Mob nicht mehr tagelang wüten lassen

Damals galten Ausländer, dunkelhäutigere gar, in diesem Land vielen Deutschen als Fremde, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Heute bringen bis ins kleinste Dorf deutsche Bürger Flüchtlingen die neue Sprache bei, helfen ihnen im Alltag, unterstützen sie bei der Arbeitssuche. Damals galt in Deutschland das Blutrecht. Heute haben wir ein neues Staatsbürgerschaftsrecht.

Dafür haben wir leider die AfD, die vor dem Einzug in den Bundestag steht – und das Asylrecht praktisch abschaffen will. Und auch heute geschehen Angriffe auf Flüchtlinge nicht nur im Geheimen. Wir erinnern uns an Clausnitz, als der Mob eine Flüchtlingsgruppe im Bus ins Visier nahm. Wir denken an Heidenau, als sich dort gemeine Bürger hinter NPD-Flaggen versammelten und gewaltsam versuchten, der Zuzug von Flüchtlingen zu verhindern.

Gemeinsam ist diesen Fällen des öffentlich begangenen und applaudierten Zivilisationsbruchs, dass sie im Osten der Republik geschahen, wo Demokratie und Menschenrechte ganz offenbar einer stärkeren Verankerung bedürfen.

Tagelang zusehen geht nicht mehr

Ob Lichtenhagen wieder geschehen kann? Ausschließen lässt sich das nicht. Doch eines spricht dagegen: Ich bin mir sicher, dass heute anständige Menschen diesem tagelangen Treiben nicht mehr nur im Fernsehen zuschauen würden. Sie würden gegen den rassistischen Mob eingreifen. Im Namen der Zivilisation.

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Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter der taz und Buchautor. Seine Themenschwerpunkte sind Zeitgeschichte und der Nahe Osten. Hillenbrand ist Autor mehrerer Bücher zur NS-Geschichte und Judenverfolgung. Zuletzt erschien von ihm: "Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach'sche Waisenhaus in Berlin", Hentrich & Hentrich 2024

Am 22. August 1992 begannen die tagelangen Angriffe auf das Flüchtlingsheim in Rostock-Lichtenhagen. Für die taz berichtete damals die spätere Chefredakteurin Bascha Mika in drei Reportagen von vor Ort. Im ersten Text beschrieb sie, wie Tausende AnwohnerInnen ihre Leute anfeuerten: „Skins, haltet durch!“ Im Bericht vom zweiten Tag erzählt sie, dass sich die Polizei, kurz bevor der erste Brandsatz flog, zum Schichtwechsel zurückzog. In der dritten Reportage schrieb Bascha Mika über die hunderte Rechte, die immer noch zu den mittlerweile leeren Plattenbauten ziehen.

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