Kolumne „German Angst“: Der Eierlikör des kleinen Mannes
Sie wissen nicht mehr weiter? Versuchen Sie es mit einem Nazi- oder gleich mit dem Holocaustvergleich. Der geht den Deutschen ans Herz.
D er Deutsche ist nicht in allem gut. Aber zumindest in ein paar Dingen. Ordnung. DIN-Normen. Dichtkunst. Autos. Nazivergleich – oder für die, die sich nicht lumpen lassen, gleich: Holocaustvergleich.
Er ist der Eierlikör des kleinen Mannes. Die Schnapspraliné der Überforderten. Das verlängerte Wochenende des tighten Spießbürgers. Der unerwartete Sonnenstrahl in einem tristen Leben.
Das Dieselauto verpestet uns? Holocaustvergleich. Autonome randalieren in Hamburg? Nazivergleich. Flüchtlingsretter auf dem Mittelmeer? Nazivergleich. RAF-Jahrestag? Nazivergleich. Hier die Legende der letzten Wochen:
1. „Deutsche Automafia vergast jedes Jahr 10.000 Unschuldige“ (Jürgen Dönscher, ARD);
2. „Kein Fußbreit der Schwarzen SA!“ (Matthias Albrecht, SPD);
3. „wie 1933 in Berlin“ (Jens Katzek, SPD);
4. „Die Überlebenden der RAF verweigern sich eines Wortes der Aufklärung und des Bedauerns, so wie schon einmal deutsche Täter sich verweigerten, für ihr Leben einzustehen.“ (Jochen Arntz, Berliner Zeitung)
Warum auch nicht? Ob systematische Überschreitung der Abgasgrenzwerte oder systematische Vernichtung der europäischen Juden: Ich kann beim besten Willen keinen Unterschied entdecken.
Unterschied?
Ein paar Tausend Linke und Betrunkene zerlegen in Hamburg ein paar Geschäfte und Autos, unter den Augen von Tausenden Polizeibeamten in Riot Gear – so muss es gewesen sein, als die SA, geschützt vom Nazi-Staat, durch die Straßen marschierte.
Ausländerhass oder Menschenleben retten? Drei Dutzend Tote oder sechs Millionen – wo soll da der Unterschied sein?
Kein Skandal ist zu klein, kein Jubiläum zu groß. Wann immer wem ein Furz quer sitzt – Holocaustvergleich. Wie ein Politiker so etwas sagen oder ein RedakteurIn so etwas schreiben kann? Vermutlich weil es so gut funktioniert. Die Leute lieben es. Der Holocaustvergleich geht den Deutschen ans Herz.
Psychologisch ist es sicher eine Art Übersprungshandlung. Das habe ich mal in der Schule gelernt. Beispiel A: Zwei gleich starke Hähne kämpfen gegeneinander, kein Gewinner in Sicht. Einer fängt an, nach Körnern zu picken. Problem gelöst.
Was her machen
Beispiel B: Ein deutscher Soldat sitzt auf dem Bahnhof und wartet auf den Zug, der ihn an die Ostfront bringen soll. Er ist verzweifelt. Er schläft ein. Problem gelöst. (Sorry für den Nazivergleich, der stand in meinem Bio-Buch!)
Beispiel C: Das Gesprächsthema ist komplex, man hat keine Ahnung oder scheut sich vor komplizierten Gedanken. Will aber doch was hermachen. Na? Genau: Holocaustvergleich. Problem gelöst.
PS: Für Einsteiger. Die Gleichsetzung von links- und rechtsextrem. Easy. Ignorieren Sie den NSU! Sagen Sie einfach: Der Rostocker Linksextreme mit seinen Feuerlöschern, Teleskopstock und Grillanzündern (wir kennen die Sammlung aus den Medien, dort hat sie die Polizei nach den G20-Protesten präsentiert) und der Neonazi mit seinem Kriegswaffenarsenal (ignorieren Sie, dass er polizeibekannt war, aber die Sammlung ignoriert wurde!): genau dasselbe!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Einigung über die Zukunft von VW
Die Sozialpartnerschaft ist vorerst gerettet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen