Nigerias Kampf gegen Boko Haram: Der Terror im Kopf
Offiziell ist Boko Haram in Nigeria nahezu besiegt, aber die Herrschaft der Islamisten hat Spuren hinterlassen. Der Wiederaufbau fällt aus.
Borno, ihre Hochburg im Norden, hatte sie damals längst in ihrer Gewalt. Anschließend gelang es ihr quasi ohne Gegenwehr, auch den Süden zu kontrollieren. Heute weht an manchen Checkpoints noch das riesige Fahndungsplakat im Wind, das die 100 gefährlichsten Terroristen zeigen soll. In der Mitte ist Abubakar Shekau zu sehen, der den größeren Teil der Terrorgruppe kontrolliert.
Gerade ist ein neues Video aufgetaucht, in dem Geiseln darum betteln, dass Nigeria mit den Terroristen verhandeln möge. Am Freitag starben 14 Menschen bei einem Bombenanschlag in der Stadt Dikwa. Am Dienstag kamen mehr als 40 ums Leben, als Boko-Haram-Kämpfer nahe Maiduguri den Konvoi eines Ölkonzerns aus dem Hinterhalt angriffen. Dabei ist die Miliz laut nigerianischer Regierung längst besiegt.
Nach möglichen Terroristen durchsucht die Autos an den Straßensperren aber niemand, egal, wie voll die Fahrzeuge beladen sind. Es wäre ein leichtes, auf den vollgestopften Ladeflächen Waffen, Munition oder Menschen zu verstecken. Doch das scheint die Sicherheitskräfte nicht zu interessieren. Sie haben ein anderes ausgeklügeltes System entwickelt. Ab und zu sieht man, dass ein Fahrer einem Polizisten oder Soldaten einen 500-Naira-Schein zusteckt, umgerechnet 1,37 Euro. Kontrolliert wird nirgendwo.
Misstrauen gegen Fremde
„Heute ist Markttag und es lohnt sich besonders“, sagt der Fahrer eines dunkelblauen Golfs. Er meint damit die Sicherheitskräfte und verzieht das Gesicht. Boko Haram ist von hier offiziell vor mehr als zweieinhalb Jahren von der Armee verjagt worden. In Sicherheit ist der Norden Adamawas und der Süden Bornos deshalb noch lange nicht.
Genau auf der Grenze der Bundesstaaten befindet sich die Kleinstadt Uba. Der Teil rechts der Durchgangsstraße gehört zu Adamawa. Wer links abbiegt, kommt auf einer Piste nach Chibok, wo im April 2014 276 Schülerinnen entführt wurden. Nur etwas mehr als 100 von ihnen sind heute wieder frei, ausgetauscht gegen gefangene Boko-Haram-Kämpfer.
Auch in Uba fielen die Terroristen im September 2014 ein, woran auf den ersten Blick nichts mehr erinnert. Kinder toben über die sandigen Straßen. Eine Gruppe von Frauen verkauft frittierte Bällchen aus Bohnenmehl. Neben der Landwirtschaft ist es die einzige Einnahmequelle, die sie haben. An einem guten Tag verdienen sie pro Person 500 Naira.
Abubakar Mohammed nickt einer der Frauen zu. Der 29-Jährige ist groß, trägt Jeans und ein graues T-Shirt. Das hier ist sein Viertel, in dem er bis auf seine Studienzeit in der Provinzhauptstadt Maiduguri, wo er Bank- und Finanzwesen lernte, sein ganzes Leben verbracht hat. Man kennt sich, grüßt sich und wird misstrauisch, sobald jemand auftaucht, der fremd ist. „Das ist seit Boko Haram so“, sagt er und lehnt sich gegen eine staubige Häuserwand. In den Köpfen seien die Terroristen bis heute.
Die Zahl der Ermordeten? Weiß niemand genau
Das Misstrauen geht so weit, dass Neuankömmlinge dem Bürgermeister gemeldet werden. Letztendlich soll er entscheiden, ob sie bleiben dürfen oder nicht. „Man kann ja gar nicht wissen, wer das wirklich ist“, sagt Mohammed. Es klingt, als wolle er sich rechtfertigen. Die Angst, dass es wieder zu Morden, Plünderungen und Vergewaltigungen kommt, ist noch immer da.
Für einen Moment hört er auf zu sprechen, in seinem Kopf läuft jetzt sein ganz persönlicher Horrorfilm. Eins ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: Die Frauen und Kinder, die flüchteten und versuchten, einige Habseligkeiten mitzunehmen. Im Bundesstaat Borno leben bis heute 1,4 Millionen Binnenflüchtlinge, in Adamawa sind es 140.875.
Wie viele Menschen ermordet wurden, lässt sich kaum sagen. Seit 2009, als die Miliz ihre Angriffe verschärfte, sollen es mindestens 20.000 gewesen sein. Eines der Opfer kannte Mohammed gut: „Als Boko Haram das erste Mal nach Uba kam, haben sie einen meiner Freunde erschossen. Ihn traf eine Kugel. Er war sofort tot.“ Er versucht, nüchtern zu klingen, doch seine Stimme fängt an zu zittern. Sicherheit und Vertrauen sind für ihn zu Fremdwörtern geworden.
Hochqualifiziert, ohne Job
Der 29-Jährige spielt unruhig mit seinen Händen hin und her. Es ist einer dieser Nachmittage, an denen ihn Erinnerungen quälen. Um sich abzulenken, will er sich die Beine vertreten, durch sein Viertel laufen. Immerhin hat es geregnet. Die meisten Bewohner sind Bauern, sie arbeiten jetzt auf ihren Feldern. Anders als am Tschadsee und rund um den Sambisa-Wald ist es außerhalb der Ortschaften einigermaßen sicher.
Allerdings fehlt es an Saatgut und Ackergeräten, um die Felder zu bestellen und von den Erträgen leben zu können. Dabei sei die Landwirtschaft früher durchaus lukrativ gewesen. „Heute funktioniert das alles nicht mehr. Boko Haram hat nämlich alles zerstört, was mal da war.“
In Uba plünderten Mitglieder zahlreiche kleine Läden entlang der Hauptstraße. Was sie nicht brauchten, wurde verbrannt oder zerschlagen. Sichtbar ist das in Uba, anders als etwa in der Stadt Mubi, nicht mehr. Dort erinnern bis heute mehrere abgebrannte Bankgebäude an die Zerstörungswut. Bei dem Spaziergang durch sein Viertel deutet Mohammed unmerklich auf junge Leute. Mal stehen sie zusammen am Straßenrand und unterhalten sich; ein paar Mädchen spülen vor dem Haus in großen Plastikschüsseln Geschirr. Fließendes Wasser hat keins der Häuser.
Der Terror hat den Nordosten erneut zurückgeworfen
Die Region galt jeher als arm und Infrastruktur sowie Bildung als schlechter im Vergleich mit südlicheren Landesteilen. Im Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen von 2016 zu Nigeria, dem mit 186 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Land Afrikas, hat Borno mit durchschnittlich 43 Jahren die niedrigste Lebenserwartung.
Und der Terror hat den Nordosten erneut zurückgeworfen. „Ich habe einen Hochschulabschluss. Doch seit ich vor sechs Jahren fertig wurde, hatte ich noch nie einen Job“, sagt Mohammed. Er klingt weder verbittert noch hat er Hoffnung, in absehbarer Zeit ein festes Einkommen zu erzielen.
Sein Plan war ein anderer. In Uba sind längst keine Mopeds mehr zu sehen, die einst in Nigerias Städten das wichtigste Transportmittel waren. Da Boko-Haram-Anhänger zu häufig auf Mopeds zu Anschlägen aufbrachen, wurden die in vielen Städten verboten. Abubakar Mohammeds persönlicher Horrorfilm beginnt nun wieder.
Jetzt kommt darin ein Moped vor, denn einer seiner Freunde wurde 2014 zweimal von einem Moped angefahren. Die Fahrer waren, so erzählt er es, zwei Mitglieder der Terrorgruppe. So hätten sie den Freund gezwungen, sich der Gruppe anzuschließen. „Ich schätze, dass es hier um die vierzig waren, auf die sie Druck ausgeübt haben. Sie haben sie mitgenommen und zum Teil in den Sambisa-Wald gebracht.“
Auf Hilfe vom Staat hofft hier niemand mehr
Was dort genau passiert ist, weiß Mohammed nicht. Er will es wohl auch nicht wissen. Entscheidend ist für ihn, dass dem Freund nach zwei Ausbruchsversuchen die Flucht gelang. Er lässt den Blick über die Straße wandern, ohne dass er anhält. Hier irgendwo lebt der Freund wieder. Die Angst ist groß, dass er wie andere als einstiger Kämpfer verhaftet wird.
Als die Mopeds mit Boko Haram schließlich aus Uba verschwanden, lieh sich Abubakar Mohammed 50.000 Naira (137 Euro). Mit dem Geld wollte er in den Fahrradhandel investieren. Als er das erzählt, hat er sich auf die Stufen eines Hauses gehockt. Die Idee schien einfach und gut. „Mit dem Geld bin ich nach Mubi gefahren und habe drei Räder gekauft, sie nach Uba gebracht und wieder verkauft.“ Der Erlös sei mit 2.000 Naira pro Rad minimal gewesen, die Kosten für die einstündige Fahrt errechnet er lieber nicht.
Doch auf die Bitte, sein Geschäft zu sehen, schüttelt er mit dem Kopf. Die Idee sei gut gewesen, funktionierte aber nicht mehr. „Anfangs waren wir vielleicht sieben, die das gemacht haben. Später wurden es 50. Es lohnt sich nicht einmal mehr, überhaupt noch nach Mubi zu fahren und nach ein paar Fahrrädern Ausschau zu halten.“
Der Traum vom kleinen Geschäft bleibt. Auf die Frage, womit er heute sein Geld verdient, schweigt Abubakar Mohammed. „Ich würde mir wünschen, dass uns NGOs helfen könnten. Würden sie uns mit Startkapital unterstützen, dann könnten wir etwas aufbauen.“ Es ist bezeichnend, dass er eher von nichtstaatlichen Organisationen Unterstützung erwartet als von Nigerias Regierung.
Vom kranken Präsidenten Muhammadu Buhari erhofft er sich nur eins: „Er sollte mal zu uns kommen und selbst sehen, wie arm die Menschen hier sind.“ Dass der 74-Jährige auch etwas ändern wird, davon geht der junge Mann längst nicht mehr aus.
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