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Sexualisierte Gewalt unter JugendlichenWenn der Kumpel zum Grapscher wird

Übergriffe erfolgen weit häufiger als angenommen. Jugendliche in Heimen und Internaten belästigen vor allem Gleichaltrige.

Heime und Internate sind häufig Orte sexueller Gewalt Foto: dpa

Berlin taz | Sexualisierte Gewalt in Heimen, Internaten und anderen Kinder- und Jugendeinrichtungen ist verbreiteter, als dies bisher angenommen wurde. Das ergaben mehrere Studien, die unter anderem die Goethe-Universität Frankfurt am Main und das Universitätsklinikum Ulm im Auftrag des Bildungsministeriums durchführten.

Danach erlebt mehr als die Hälfte der befragten Jugendlichen sexuelle Gewalt: Begrapschen, anzügliche Bemerkungen und Gesten, Zeigen von Pornos, Penetration, Zwang zur Masturbation vor anderen. Mädchen sind davon stärker betroffen als Jungen. Ein Viertel der Jugendlichen wird selbst übergriffig, von ihnen sind etwa zehn Prozent weiblich. Die Vorfälle finden vor allem unter Jugendlichen selbst statt und gehen weniger vom erwachsenen Personal in den Einrichtungen aus.

„Das ist überraschend“, sagt Marc Allroggen, Jugendpsychiater am Universitätsklinikum Ulm: „In Heimen und Internaten herrscht eine hohe Belastung durch sexuelle Gewalt.“ Manche Jugendliche werden in Einrichtungen eingewiesen, weil sie bereits sexuell übergriffig geworden sind. Andere Betroffene werden Opfer, nachdem sie in ein Heim oder in ein Internat gezogen waren. Rund 30 Prozent sind gleichermaßen Opfer und Täter.

Bisher hatte man angenommen, dass vor allem Erzieher, Trainer, Lehrer und andere Erwachsene in den Einrichtungen sexuelle Übergriffe auf die Jugendlichen verüben. Die aktuellen Befragungen aber ergaben, dass unter zehn Prozent der Übergriffe von Mitarbeitenden in den Einrichtungen verübt werden. „Der überwiegende Teil sexueller Aggressivität in Kinder- und Jugendeinrichtungen richtet sich gegen Gleichaltrige“, sagt Allroggen. Der Altersabstand zwischen Opfern und TäterInnen betrage durchschnittlich ein Jahr. Die Gewalt gehe oft einher mit der Pubertätsentwicklung. Die meisten Opfer würden später nicht selbst zum Täter werden.

Bislang gab es keine fundierten Forschungen zu sexueller Gewalt an und unter Jugendlichen. Die jetzigen Studien sind ein Ergebnis des Runden Tischs zu sexueller Gewalt, nachdem 2010 massenhafte Missbrauchsvorfälle in katholischen und anderen Einrichtungen bekannt wurden. Damals wurde neben einem Fonds für therapeutische und medizinische Maßnahmen und Hilfsmittel unter anderem beschlossen, sexuelle Gewalt wissenschaftlich zu untersuchen. Anhand dieser Ergebnisse könnten nun gezielt Präventionsmaßnahmen für Jugendliche entwickelt werden, sagt Allroggen. Bereits vorhandene Schutzkonzepte müssten konsequent angewendet werden.

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4 Kommentare

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  • Der Paternalismus hat seine Quelle in den Familien. Und mit der in den letzten 34 Jahren durchgezogenen Refeudalisierung der deutschen Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Justiz und dem Bildungssystem ist doch geradezu beispielhaft auch der Aufstieg des Herrn Lucke verbunden, der für präzivilisatorisches Patriarchatsdenken und die von Minderwertigkeitspsychosen getriebenen Neuen Nationalen Sozialisten des AfD- und Pegidiotensektors ursächlich ist. Und mit Blick auf die modernen Medien, die vermittels des digitalisierten Infotainments und der sich rasend verbreitenden Idiotisierung des infantilisierten Comedianismus und Talkshowismus ist mit der exponentiellen Steigerung dieser Entgeistigung immer weiterer Teile der Bevölkerung zu rechnen.

    H.-E. Richters "Wer nicht leiden will, muss hassen!" erklärt ja nicht nur den AfDlerismus und Pegidiotismus, sondern eben auch die pathologische Ausbreitung der phallischen Erkrankungen.

  • mein gott leute man muss doch kein Kinderversteher sein um zu erahnen, was in hERanwachsenden Menscen vor sich geht, die 24h am Tage zusammen sind, das fängt beim Aufstehen und endet mit Sclafengehen, dauernde körperlihce Nähe, die Körper entwickeln sich, gerade wenn man laufend zusammen ist, körperliche KOntakte bleiben da nicht aus, 3 Jahre im Internat reicht um ein Buch zu screiben

  • Da würde ich noch weiter gehen. Nachdem bereits - ausgehend von so manchen 68er Theorien - in den ersten Schuljahren die verbal sexualisierte Gewalt unter den Kindern durch Erzieher und Eltern achselzuckend akzeptiert und in Gesprächen über den Zaun so nebenbei sogar schöngeredet wird, bin ich der Meinung, dass es vor allem Sache zunächst der Eltern ist, ihrem Kind von Anfang an klarzumachen, worauf es im Kontakt mit Gleichaltrigen ankommt: Respekt, auch vor den Gefühlen und Abneigungen anderer.

     

    Unsere ungezogenen Eltern von heute werden sich als Großeltern von morgen eines Tages darüber beschämte Gedanken machen, was sie mit ihren eigenen gedankenlosen Egoismen, ihrer Faulheit und ihrem negativen Vorbild für Monster herangezogen haben. Aber selbst wenn sie selbst von den eigenen Eltern schon keinerlei Rahmen gesteckt bekamen, liegt doch die Verantwortung bei ihnen - und nicht beim Kind. Es sind die Eltern, die die das Verhalten ihrer Kinder entscheidend prägen. Die Saat ihrer Fehlerziehung wird aufgehen und erstaunliche Verrohungen zutage bringen.

     

    Erziehung ist aufmerksame sensible Arbeit. Darüber muss sich jede Mutter und jeder Vater im Klaren sein - und zwar gewaltlose, verantwortungsvolle Arbeit! Darauf müssen sie vorbereitet sein, wenn Nachwuchs geplant ist.

    • @noevil:

      Hier geht es wohl weitgehend um Einrichtungen der Jugendhilfe. Dort wo die Eltern schon offensichtlich versagt haben. Das hat wenig bis nichts mit irgendwelchen 68er Theorien zu tun. Viel häufiger mit dysfunktionalen Familien und sozialem Abstieg. Die davon betroffenen Kinder und Jugendlichen sind oft verhaltensgestört,oder verhaltensoriginell wie es PC heisst. Diese Störungen zeigen sich in aggressivem Umgang miteinander bis eben in den sexuellen Bereich.