„Keine Konkurrenz zu Gerichten“

JUSTIZ Privat schlichten, statt vor Gericht streiten: Verfassungsrichter Reinhard Gaier lobt diesen Weg

„Konflikte haben nicht abgenommen“: Reinhard Gaier Foto: dpa

taz: Herr Gaier, seit 1994 sind die Fallzahlen bei den Zivilgerichten in Deutschland um ein Drittel zurückgegangen. Die Justiz scheint zu erodieren. Dafür werden nicht zuletzt private Schlichtungsstellen wie der Versicherungsombudsmann verantwortlich gemacht. Zu Recht?

Reinhard Gaier: Die vorliegenden Zahlen sprechen dagegen. Während bei den Gerichten in den letzten zwanzig Jahren ein Rückgang um rund 750.000 Verfahren pro Jahr zu beobachten ist, bearbeiten die staatlich anerkannten Schlichtungsstellen zusammen nur rund 60.000 Fälle pro Jahr. Man kann also nicht sagen, die Fälle wandern von der staatlichen Justiz zu privaten Schlichtungsstellen ab.

Gibt es vielleicht einfach weniger Streit im privaten Rechtsverkehr?

Vermutlich nicht, denn die Anwaltschaft hat genauso viel zu tun wie früher. Die Zahl der Konflikte hat also nicht abgenommen, sie landen nur seltener vor Gericht.

Wie erklären Sie sich dann den Rückgang der Verfahren?

Ich glaube, die ständig wachsenden Kosten und die damit verbundenen Risiken des Prozessierens sind ein wichtiger oder gar der wesentliche Grund. Es gibt Untersuchungen, wonach mehr als 40 Prozent der europäischen Verbraucher bei Streitwerten bis 500 Euro auf eine Klage vor Gericht verzichten, um den damit verbundenen Kosten- und Zeitaufwand zu vermeiden.

Muss die Justiz billiger werden?

Das wird kaum möglich sein. So ist zum Beispiel wegen der zunehmenden Komplexität der Lebensverhältnisse immer häufiger der Einsatz von Sachverständigen erforderlich, um den Sachverhalt aufzuklären.

Welche Rolle können dann Schlichtungsstellen spielen?

Sie könnten einen Teil der Fälle auffangen, die heute wegen des Kostenrisikos nicht mehr vor Gericht gelangen. Ich sehe darin eine große Chance, den Rechtsschutz der Verbraucher zu verbessern.

Warum ist Schlichtung billiger?

Der Schlichter kann von einer vollständigen Klärung des Sachverhalts absehen und muss auch nicht die Rechtslage bis ins Detail klären. Es genügt, wenn er einen fairen Vergleich vorschlägt, der sich an der Rechtslage orientiert. Außerdem ist eine Schlichtung für den Verbraucher kosten- und damit risikolos.

Verzichtet der Verbraucher dabei denn nicht auf sein gutes Recht?

Wer die Möglichkeit der Schlichtung wahrnimmt, verzichtet auf nichts. Denn der Vorschlag des Schlichters ist unverbindlich. Wenn der Verbraucher nicht zufrieden ist, kann er immer noch bei staatlichen Gerichten klagen.

Und der Justiz gehen auch nicht die Fälle aus?

Es wird gerade im Kauf-, Werkvertrags- oder Versicherungsrecht sicher auch in Zukunft genügend Fälle geben, die bei Gericht landen. Damit werden die staatlichen Gerichte auch künftig genügend Fallmaterial haben, das Recht auszulegen und fortzuentwickeln.

Die Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Bettina Limperg, sieht Schlichtungsstellen und Gerichte in einer Konkurrenzsituation. Sie nicht?

Reinhard Gaier

62, ist seit zwölf Jahren Richter am Bundesverfassungsgericht. Seine Amtszeit endet im Oktober. Zuvor war er Richter am Bundesgerichtshof. Gaier publizierte mehrfach zum Verhältnis von Schlichtung, Schiedsgerichten und staatlicher Justiz

Diese Einschätzung respektiere ich, aber ich teile sie nicht. Beide Optionen gehören zu einem modernen System institutioneller Rechtsverwirklichung. Dabei wird die staatliche Justiz auch in Zukunft die zentrale Rolle behalten, weil nur sie Rechtssicherheit schaffen kann. Zudem werden vor die Schlichtungsstellen oft Verfahren gelangen, die eben wegen des Kostenrisikos nie zu Gericht gekommen wären.

Sollten die Schlichtungsstellen also ausgebaut werden?

Das geschieht bereits. Das zum 1. April 2016 in Kraft getretene Verbraucherstreitbeilegungsgesetz sorgt dafür, dass ein flächendeckendes Netz von Schlichtungsstellen geschaffen wird. In erster Linie werden das branchenbezogene private Stellen sein. Sie müssen allerdings gesetzlichen Mindestbedingungen genügen und behördlich anerkannt sein. Vor allem müssen Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und fachliche Qualifikation des Schlichters gewährleistet sein.

Und wer hilft den Verbrauchern dort, wo es noch keine branchenspezifische Lösung gibt?

Hierfür gibt es zunächst die bundesweit tätige Allgemeine Schlichtungsstelle in Kehl. Bis 2020 sollen dann die Bundesländer, wenn nötig, eigene Universal-Schlichtungsstellen aufgebaut haben.

Interview
Christian Rath