Neuer Trend beim Seriengucken: Speed Watching statt Binge Watching
Der Tag hat nur 24 Stunden, aber Netflix so viele Serien. Zeit, das Glotzen neoliberal zu optimieren: Man dreht einfach an der Abspiel-Geschwindigkeit.
Anything in life worth doing is worth overdoing. Moderation is for cowards (T-Shirt-Spruch)
Rückwirkend betrachtet klingt die Bezeichnung „Couch Potato“ eigentlich gar nicht so schlecht. Sie ruft Vorstellungen auf von einer monadenhaften Existenzform, die es sich auf dem Sofa vor der Glotze mit einer Schüssel Kartoffelchips (potato!) in großzügig geschnittener Freizeitkleidung (Pyjama!) dauerhaft bequem gemacht hat. Die TV-Serien guckt, in denen die Protagonisten selbst regelmäßig lange Lebensperioden auf der Couch lungernd verbringen („Alf“, „Garfield“, „Die Simpsons“, „Cosby Family“) und wegen denen man ob physischer Untätigkeit irgendwann selbst die Körperform einer Kartoffel annimmt. Keine besonders anspruchsvolle oder ästhetische Lebenshaltung, aber irgendwie gemütlich.
Die Zeiten sind vorbei. Serienkonsum ist in einer Zeit erhöhter Anforderung an die Aufnahmebereitschaft zu einer Art Leistungssport geworden. Denn es gibt so viel zu sehen. Der Tag hat halt nur 24 Stunden, aber bei Netflix gibt es so viele Fernsehserien. Bei Amazon noch mehr. Bei YouTube gibt es auch ganz viele Videos.
Und – Moment, ich muss kurz Luft holen – dann sind da noch die Mediatheken der deutschen Fernsehsender. Nicht zu vergessen die DVDs, die – aus einem lange vergangenen Medienzeitalter übrig geblieben – noch neben den Fernseher stehen und „weggeguckt“ werden wollen. Wer soll sich das alles ansehen? Und vor allen Dingen: wann?
Zeitmangel ist das Statussymbol unserer Zeit – so leicht es auch zu erreichen ist. Zumal wenn man nebenbei noch die Schattenexistenz eines „richtigen Lebens“ führt, in dem man arbeiten, die Wäsche machen, einkaufen gehen und Pokémon Go spielen muss. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf einen „Lifehack“ verfallen würde, der es einem leichter macht, mit den überbordenden Amüsementsmöglichkeiten Schritt zu halten: Man guckt Videos, Filme und Fernsehserien einfach schneller. Auf das „Binge Watching“ folgt „Speed Watching“.
Schnellerer Input
Für diejenigen, die gerade erst eingeschaltet haben: der Terminus „Binge Watching“ leitet sich vom „Binge Drinking“ ab, also vom Quartalssuff. Man guckt Serien so wie der Trunkenbold, der – wenn er erst einmal mit dem Picheln begonnen hat – nicht mehr aufhören kann, bis die letzte Flasche auf den Grund geleert ist.
Dito bei Fernsehserien: Die normale Staffel einer HBO-Serie hat 13 Folgen, die knapp eine Stunde lang sind. Wer also eine Season der „Sopranos“ an einem Tag gucken will und um 10 Uhr morgens anfängt, ist um 23 Uhr nachts fertig. Wenn er diszipliniert guckt und keine Pausen zum Essen, Trinken oder zur ausgedehnten Toilette einlegt.
Ganz offensichtlich ist da im Rahmen der neoliberalen Optimierung aller Lebensbereiche noch Luft drin! Bei Videos nennt man es „Speed Watching“, „das Ansehen von Filmen oder Fernsehsendungen, indem man sie entweder vorspult oder beschleunigt“, wie das Urban Dictionary im Internet diese Praxis definiert. Es mag noch kein Megatrend sein. Aber im Internet werden schon Tipps getauscht, wie man eine Staffel „Game of Thrones“ oder das langatmige YouTube-Video-Rezept schneller bewältigt: einfach die Geschwindigkeit hochfahren.
Bei Videosoftware wie dem beliebten VLC-Player, aber auch bei YouTube ist es leicht, die Sichtungsgeschwindigkeit zu verdoppeln. Dank neuer Fortschritte in der digitalen Wiedergabetechnik zischen die Bilder an einem vorbei, ohne dass der Soundtrack auf Helium-Frequenzen hochgepitcht wird. Na gut, die Dialoge sind deutlich beschleunigt, da muss man halt besser aufpassen. Aber der Zeitgewinn bei einer Stunde Videomaterial auf doppelter Geschwindigkeit ist fünfzig Prozent.
Mehr Zeit – für noch mehr Serien!
Was man mit der neugewonnen Lebenszeit alles anstellen kann! (Zum Beispiel noch mehr Fernsehserien gucken!) Wer sein Bier im Gehen zu trinken oder mit der Hilfe von Tinder die Balzzeit zu verkürzen gelernt hat, wird das als echten Fortschritt schätzen.
Und seinen Wahrnehmungsapparat auch schnell auf die angestiegenen Anforderungen umstellen können: „Wenn man ein paar Minuten mit höherer Geschwindigkeit geguckt hat, sollte man es nochmal mit der normalen Geschwindigkeit versuchen. Es wird einem unglaublich langsam vorkommen, weil sich das Gehirn schon an den schnelleren Input gewöhnt hat“, freut sich der Blogger Peteris Krumins, der im Netz Tipps fürs Hochgeschwindigkeitsglotzen gibt.
Und im Internetmagazin The Next Web heißt es: „Die Zeit, die man durch erhöhte Playback-Geschwindigkeit spart, kann im Lauf eines ganzen Tages wirklich etwas ausmachen.“ Für eine Existenzform, die vor allem aus dem Gucken von Onlinevideo besteht, ist das natürlich Grund zur Hoffnung.
In der digitalen Kultur hat das Erhöhen der Schlagzahl schon öfter neue Kulturformen hervorgebracht: In den Neunzigern entstanden aus dem Hochdrehen der Geschwindigkeit neue Musikgenres wie Jungle, Drum & Bass oder Speed Garage, wenn zur Steigerung der Reizdichte alte Reggae- oder Hip-Hop-Beats auf doppelte BPM-Werte beschleunigt wurden. Doch hier waren es die Produzenten, die durch eine Art Audio-Tuning historische Musikstile zu neuen Ausdrucksformen hochfrisierten. Beim „Speed Watching“ geht es dagegen um eine Beschleunigung des Konsums.
Wer würde da nicht an die dunkelsten Anmerkungen Adornos über die Kulturindustrie denken, nach denen Kulturkonsum selbst zu einer Form der Arbeit geworden ist? Amüsement wird im Spätkapitalismus zur „Verlängerung der Arbeit“, heißt es in der „Dialektik der Aufklärung“; in der „Konsumption der Kulturwaren“ bildet man den Arbeitsvorgang nach, statt sich von ihm in der scheinbar autonomen Sphäre der Kultur zu erholen.
Speed Watching gehorcht dem Effizienzdiktat
So wie der Vorarbeiter das Fließband schneller laufen lassen kann oder ein Algorithmus den Fahrradkurieren von Foodora oder Deliveroo beim Ausliefern von Pizza und Burgern Beine macht, so gehorcht man auch beim Speed Watching dem Effizienzdiktat unserer Tage.
Zehn Prozent der deutschen Bevölkerung sollen inzwischen im Fitnessstudio dem Anachronismus eines Leibs hinterherhecheln, der gesteigerten körperlichen Leistungsanforderungen genügt. Die kommen freilich nie, weil alle sowieso nur noch vor dem Computer sitzen. Der Speedviewer hingegen trainiert seine Sinne für die wahren Herausforderungen der Gegenwart: Wer eine Stunde „Orange Is the New Black“ in vierzig Minuten schafft, wäre bestimmt auch kein schlechter Tele-Pilot für Kampfdrohnen.
Oder eben ein höchst erfolgreicher „Symbolanalytiker“ – und sind wir das inzwischen nicht alle? Bei kulturindustriell durchgetakteten Produkten wie „Big Bang Theory“ oder „How I Met Your Mother“ hat man die ideale Rezeptionsform möglicherweise sowieso erst dann erreicht, wenn man um fünfzig Prozent schneller lacht, als die Echtzeitversion der Serie es vorgibt. Man muss aufpassen, dass man angesichts dieses Phänomens nicht in einen breiigen Kulturpessimismus a la Byung-Chul Han verfällt.
„Die Felder der Geschwindigkeitsexzesse sind von Opfern dieses Gefechts übersät“, schrieb in den achtziger Jahren der Philosoph Paul Virilio. Er wollte mit der „Dromologie“ aus der Analyse der Geschwindigkeit gleich eine ganze philosophische Schule schaffen. Bei Virilio waren es die Weltkriege und die Medien, die durch Übertaktung zur Lähmung unserer Seelen geführt haben.
Unproduktives Rumliegen? Ist nicht drin
Im Zeitalter des „Quantified Self“ ist für niemand mehr der Luxus vorgesehen, als Opfer von Erhöhungen der Rezeptionsform irgendwo unproduktiv herumzuliegen, weder auf Schlachtfeldern noch auf dem Sofa. Idealerweise übernimmt eine App da, wo der Mensch nicht mehr mitkommt, guckt die hochgedrehten Filme gleich selbst und schickt die Werte in die Cloud, wo man sie mit anderen Speedviewern vergleichen kann.
Und die frei gewordene Zeit? Die kann man damit verbringen – hm, um als Couchpotato tiefenentspannt vor der Glotze zu sitzen? Das müsste man sich freilich erst einmal trauen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Pro und Contra Letzte Generation
Ist die Letzte Generation gescheitert?
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht macht BND für Irrtum verantwortlich
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!