Debatte Europäische Union: Ein vielbemühtes Monster
Die EU wird gern als undemokratisches Regime dargestellt. Der Brexit zeigt, welche Folgen solche Denkbilder haben können.
Bei einer Debatte über die EU kommt immer dann die Stunde der Wahrheit, wenn die Diskutanten vom individuellen Thema – aktuell Brexit – zum Deutungsrahmen kommen, vor dessen Hintergrund sie ein Ereignis einordnen. Sahra Wagenknecht und Fabio de Masi schrieben kürzlich in einem Gastbeitrag für Zeit Online: „Der Brexit war kein Votum gegen Europa, sondern ein Votum gegen einen Brüsseler Club, der sich der Demokratie entzieht.“
Das nennt sich „Framing“, also aktive Besetzung und Beeinflussung des Deutungsrahmens. Wer den Brexit verstehen möchte, muss sich anschauen, was es bedeutet, wenn sich fragwürdige Deutungsrahmen in einer Gesellschaft durchsetzen.
Erstes Bild: Die EU und ihre „Eliten“ sind nicht Europa. Im zitierten Zeit-Online-Artikel wird gar im Titel behauptet, die real existierende EU zerstöre die „europäische Idee“. Im Vereinigten Königreich war dies während der Kampagne Standard: Boris Johnson hat ernsthaft argumentiert, ein echter Europäer müsse gegen diese EU sein. Dahinter lauert der Gedanke: Wenn nötig, müssen wir die falsche Juncker-EU erst mal eindampfen, um das echte Europa im eigenen Sinne zu verwirklichen. Soll heißen: je nach Ideologie sozialstaatlich (Wagenknechts Programm) oder eben als Paradies von Freihandel und nationaler Souveränität (Johnson). In jedem Fall sollen Volksentscheide „EU-Eliten“ entmachten.
Das Gegenbild dazu unterschreiben hoffentlich noch viele Europäer: Diese EU und die Zähmung des Nationalismus sind eine einzigartige historische Leistung parlamentarischer Demokratien. Weder Wagenknecht noch Johnson haben eine zweite EU im Kofferraum. Und der positive Einfluss von Volksentscheiden ist beim Wiederaufbau höchst ungewiss.
Form und Inhalt verwechselt
Zweites Bild: Der Klassiker des Framings ist die EU als „bürokratischer Moloch“. Was harmlos als Eurokratenbashing (jetzt vermiesen sie uns auch noch das Staubsaugen!) daherkommt, hat im Vereinigten Königreich direkt zum Bild der Herrschaft der nichtgewählten EU-Kommission geführt. Das Gegenbild, nationale Minister und das Europäische Parlament als demokratisch gewählte Gesetzgeber, war in der UK-Debatte bereits irrelevant. Dies führt direkt zum dritten Rahmen: die EU als „undemokratisches Monster“. Diese Annahme vereint nicht nur Nationalisten in vielen Mitgliedstaaten, sondern eben auch viele Linke.
Die Unterstellung lautet: Die EU Gesetzgebung komme nicht demokratisch zustande. Noch schlimmer, sie sei auch inhaltlich festgezurrt – nämlich regulierungswütig in den Augen der britischen Marktideologen und neoliberal in den Augen der Linken. Deshalb konnte beispielsweise Labour-Chef Jeremy Corbyn die EU nicht aus vollem Herzen unterstützen, was erheblich zum Brexit beigetragen hat. Das Problem: Wie die britischen EU-Hasser verwechselten viele Linke Form und Inhalt der EU. Auf die Verfasstheit einschlagen, aber die Migrations-, Austeritäts- und Deregulierungspolitik meinen.
Warum aber sind die Briten raus, wenn nicht – wie Wagenknecht meint – aus Ekel an der undemokratischen und ungerechten EU? Ein Deutungsrahmen: Weil sie aus unterschiedlichen Gründen nicht mit den Inhalten nationaler Politik wie Migration, Sozialabbau, Gesundheitspolitik einverstanden waren. Übrigens wohl auch nicht mit Form und Akteuren – siehe Vertrauensverlust in die britische Politik. Dabei dachte eine Mehrheit der Wähler, das Übel läge auch in der Mitgliedschaft ihres Landes in der EU, Stichwort Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Noch abstrakter, wie Bernd Ulrich in der Zeit geschrieben hat, haben sie wohl auch gegen das brachiale Hereinbrechen der Globalisierung gestimmt. Dass insbesondere die britischen Regierungen in Brüssel die Osterweiterung und die Arbeitnehmerfreizügigkeit und damit den vermeintlichen Willen britischer Wähler durchgesetzt hatten, ist natürlich der Treppenwitz. Deshalb geht der Vorwurf des Demokratiedefizits am entscheidenden Punkt vorbei: Wer mit der Politik der EU nicht einverstanden ist, sollte nicht als Reflex auf ihre Verfasstheit einprügeln, sondern nationale und europäische politische Mehrheiten gewinnen. Das wäre beispielsweise eine Aufgabe von Jeremy Corbyn und Sahra Wagenknecht.
Das vierte Bild geht weit über das Demokratiedefizit hinaus. Wagenknechts „Brüsseler Club“ klingt verdächtig nach „Junta“. In diesem Sinne findet sich eine interessante Übereinstimmung mit Stefan Reineckes Framing in der taz vom 2. Juli 2016: Die Europäische Gesetzgebung käme ohne „Checks and Balances“ zustande, und das EU Parlament sei so schwach und die Exekutive so mächtig wie sonst „nur in autoritären Regimen“.
Politik gewählter Regierungen
Die EU als „autoritäres Regime“? Auch dies hat sich im Vereinigten Königreich bereits etabliert. Deshalb lachte dort auch niemand, als Ukip den „independence day“ forderte. Auch Boris Johnson nannte die EU ein Gefängnis. Ein Gefängnis? War nicht die EU in der Geschichte der erste nicht durch Krieg erzwungene Zusammenschluss von Staaten, die freiwillig Souveränität abgaben? Und: Ist normale EU-Gesetzgebung nicht sehr wohl legitimiert durch den Kompromiss zwischen nationalen Regierungen und Europäischem Parlament?
ist Politologe. Er arbeitet in den Niederlanden am European Institute of Public Administration (Eipa) und seit 2016 auch an der Universität Maastricht. Neben seinem Hauptberuf schreibt er auch für „zeozwei“. Seine Kolumne „Ökosex“ erschien jahrelang in der taz.
Selbst hinter der Eurogruppe, die wegen der Gläubiger-/Schuldner-Situation höchst problematisch ist, steht nicht eine Diktatur, sondern da verfolgen gewählte Regierungen ihre Wirtschafts- und Sparpolitik.
Das kann man freilich ablehnen. Gäbe es in der Eurogruppe eine stramme linke Mehrheit, wäre diese Politik anders. Das gilt auch für TTIP, wo es übrigens ohne Zustimmung des Europaparlaments kein Abkommen gibt. Und wer hier nach den nationalen Parlamenten ruft, stellt leider auch das Europäische Parlament infrage. Denn stimmt das Bild vom Nationalstaat als Hort der wahren und echten Demokratie? Eher nicht. Aktuell fühlen sich nicht nur Schotten, Katalanen, Flamen in den nationalen Parlamenten nicht gehört. Und doch sprechen wir nicht von autoritären Regimen.
Drum sollte, wer von der EU spricht, in Zukunft seine Worte auf die Goldwaage legen. Die britische Erfahrung zeigt: Die schrittweise Ausweitung negativer Denkbilder vergiftet die Debatte. Der Weg zurück ist ungewiss.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken