Kommentar Junckers Rede: Die letzte Chance
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker äußert sich zur Lage der Europäischen Union. Fünf Fragen, die er in der Rede unbedingt beantworten muss.
A m heutigen Mittwoch hält EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker seine Rede zur Lage der Union. Es ist vielleicht seine letzte Chance, die Union nach dem Brexit vor dem drohenden Zerfall zu retten. Fünf wichtige Fragen gibt es, die Juncker unbedingt beantworten muss.
Brexit heißt Brexit: Will die EU sich weiter von Großbritannien an der Nase herumführen lassen? Oder gibt sie endlich eine eigene Antwort auf den geplanten ersten Austritt eines Mitgliedsstaates? Juncker sollte sagen, wie es ohne die Briten weitergeht und sich dabei zur Not auch mit Kanzlerin Angela Merkel anlegen, die auf ein „Weiter so“ setzt.
Demokratie und Transparenz: Wie hält es die EU-Kommission mit Volksentscheiden, die regelmäßig gegen die EU ausgehen (nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den Niederlanden, Frankreich, demnächst in Ungarn)? Wo bleibt die versprochene Transparenz – siehe Barroso? Junckers Amtsvorgänger arbeitet jetzt für die US-Investmentbank Goldman Sachs in London und berät sie ausgerechnet zum Brexit. Das geht gar nicht.
Bürgernähe: Ist die Abschaffung der Roaming-Gebühren alles, was Juncker einfällt? Und wie soll sie konkret aussehen – nun, da er seinen Digitalkommissar Günther Oettinger zurückgepfiffen hat? Oettinger wollte das kostenlose Surfen im Ausland ab 2017 auf 90 Tage begrenzen, Juncker hat den Entwurf kassiert. Nun muss er sagen, wie er sich die digitale Zukunft vorstellt.
Sicherheit: Was will die EU konkret für die innere und äußere Sicherheit tun? Ist es wirklich eine gute Idee, ausgerechnet einen Briten mit der Sicherheitsunion zu betreuen? Juncker hat Sir Julian King ins Rennen geschickt, das Europaparlament hat aber noch nicht „Ja“ gesagt. Solange die Briten die EU hinhalten, brauchen wir auch keinen britischen EU-Kommissar.
Rechtsstaatlichkeit: Wann geht die EU endlich gegen Staaten wie Ungarn, Polen oder die Türkei vor, die die gemeinsamen Grundwerte mit Füssen treten? Wie antwortet Juncker auf Asselborn? Der Außenminister Luxemburgs hat gefordert, Ungarn aus der EU auszuschließen, wenn es wie geplant eine Mauer baut. Brüssel schweigt – nicht zuletzt aus Rücksicht auf die konservative Europäische Volkspartei, der auch CDU/CSU angehören.
Das darf nicht alles sein
Darüber hinaus gibt es natürlich noch viel mehr Themen: die ewige Malaise des Euro, die anhaltende Flüchtlingskrise, den Streit um CETA und TTIP. Auch dazu muss Juncker Stellung beziehen. Wird das Investitionsprogramm zur Belebung der Konjunktur verlängert und aufgestockt, wie es sogar Währungskommissar Pierre Moscovici fordert? Was wird aus der Umverteilung der Flüchtlinge, die nicht vom Fleck kommt? Ist TTIP „faktisch tot“, wie dies SPD-Chef Sigmar Gabriel behauptet? Oder setzt sich die EU-Kommission über den Willen vieler Bürger hinweg und hält an Freihandel und Investorenschutz fest?
Fragen über Fragen. An den Antworten wird nicht nur Juncker gemessen – ganz Europa wartet auf neue Impulse. Wenn sie ausbleiben, könnte der Brexit erst der Anfang gewesen sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“