■ Die Multikulti-Debatte auf Irrwegen. Wir haben weniger ein Ausländer- als ein Männerproblem. Die Konflikte sind nicht nur ethnische, sondern vor allem sexistische: Kampf um die Ressource Frau
Wachsende Gewaltbereitschaft. Hoffnungslose. Straßenkampf. Hackordnung. Bürgerkriegsähnliche Szenen. Aufeinander einprügeln. Ethno-Fights. Kontrahenten. Schlägereien. Messerstechereien. Schußwaffen. Narben. Kriegsveteranen. Die multikulturelle Gesellschaft ist gescheitert, das behauptet inzwischen nicht nur die politische Rechte. Auch in der Spiegel- Geschichte „Gefährlich fremd“ wurde kürzlich mit 17 Kampf- und Kriegsbegriffen auf 38 Zeilen – gezählt an beliebiger Stelle – Stimmung gemacht. Das „Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“ ist leicht zu konstatieren, wenn man sie auf ein Multi an Kriminalität und ein Kulti an Gewaltbereitschaft reduziert. Mit den gleichen Gewaltstatistiken könnte man ohne weiteres zwei ganz andere Thesen formulieren: „Gefährlich arm. Die Industriegesellschaft ist gescheitert, weil Deutschlands Arme immer mehr desintegrierter, krimineller und gewalttätiger werden.“ Oder: „Gefährlich männlich. Die deutsche Gesellschaft ist gescheitert, weil Deutschlands Jungmänner heute desintegrierter, krimineller und gewalttätiger sind.“
Wenn man der Komplexität von Multikulti gerecht werden will, kommt man nicht umhin, neben den ethnischen auch die sozialen und die Geschlechterunterschiede in die Analyse einzubeziehen. Versuchen wir also mal die Kategorie Geschlecht durchzudeklinieren, wohlwissend, daß das Ergebnis ohne Berücksichtigung der anderen Kategorien wiederum eine Verkürzung darstellt.
Wenn es denn im Kriminalitätsverhalten überhaupt eine Differenz zwischen AusländerInnen und Deutschen gibt, was viele KriminologInnen mit Verweis auf statistische Verzerrungen bestreiten, dann ist es mit Sicherheit um ein Vielfaches geringer als der Unterschied zwischen Männern und Frauen. Nur rund 15 Prozent aller Kriminaldelikte werden von Frauen begangen. Diese 15 Prozent bestehen überwiegend aus Bagatelldelikten, vor allem Diebstahl. Weibliche Gewaltverbrechen dagegen sind sehr selten und meistens das Ergebnis von innerfamiliären Beziehungsdramen. Auch die Anzahl messerstechender Türkinnen tendiert gegen Null. Die durch die Schlagzeilen geisternden „Ethnokrieger“ könnte man also genauso gut „Macho- Krieger“ nennen. Aber das ist im Malestream der Medien wohl nicht so beliebt.
Eine ähnliche Kritik könnte man auch gegen die derzeit heftig diskutierte Studie „Verlockender Fundamentalismus“ von Wilhelm Heitmeyer richten. Deutschlands Türken neigten immer mehr zu Demokratiefeindlichkeit und Fundamentalismus, weil sie desintegriert seien, so der Bielefelder Sozialwissenschaftler. „Desintegration“ ist für ihn seit Jahren ein Schlüsselbegriff, der alles erklärt, auch die Zunahme rechtsradikaler Schlägertrupps. Aber der Begriff ist nicht nur reichlich hohl, sondern auch unhistorisch, er wehmütelt nach der guten alten Zeit, in der alles heile war. „Desintegration“ gab es immer und überall. Die Generationen vor uns durchlebten Weltwirtschaftskrise und zwei Weltkriege. Und: Häufig sind es die „Integriertesten“, die aus Langeweile und Überdruß über ihren vorgezeichneten Lebensweg zu rebellieren beginnen – siehe DDR.
Die „Desintegrations“-These trifft auf junge Türkinnen noch viel weniger zu als auf junge Türken. Erstere sind hochmotiviert, lernbegierig und streben qualifizierte Ausbildungen an. Wenn die Männer in ihren Familien sie denn lassen und nicht in Hinterhöfen einsperren, dann kommen sie viel besser in dieser Gesellschaft zurecht als ihre männlichen Altersgenossen. „Junge Mädchen aller Nationalitäten haben eine höhere Schulbildung als die Jungen: Sie verfügen in allen Bereichen über bessere Voraussetzungen, über höhere Schulabschlüsse und besuchen häufiger weiterführende Schulen.“ So ist es auch in dem jüngsten Bericht der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung zur Ausbildungssituation nichtdeutscher Jugendlicher nachzulesen. Das „Bildungsfiasko“, das der Spiegel bei den jungen Nichtdeutschen diagnostiziert, ist also ebenfalls ein in erster Linie männliches Problem, das mal wieder zum allgemeinen erklärt wird.
Was als „Ende der multikulturellen Gesellschaft“ proklamiert wird, entpuppt sich in Wirklichkeit als Integrationsproblem junger Männer in und nach der Pubertät. Davon sind bekanntlich auch die Deutschen nicht frei.
Deutschen Skinheads und türkischen Fundamentalisten ist das zwanghafte Kreisen um eine mythisch überhöhte Männlichkeit gemeinsam. Der wahre Mann hat eine eisenharte Faust, einen eisenharten Schwanz und ein Territorium, wo er allein oder mit seiner Gang herrscht. Dem deutschen Mann gehören die deutschen Frauen – ob sie wollen oder nicht. Sie gilt es zu beschützen: früher vor jüdischen Verführern, jetzt vor schwarzhaarigen Kanaken. Dem türkischen Mann gehören die türkischen Frauen – ob sie wollen oder nicht. Sie gilt es zu bewahren: vor deutschen Männern, deutschem Sittenverfall und deutscher Pornographie.
Die zentralen Konflikte der multikulturellen Gesellschaft sind sexistische. Die tatsächlichen oder auch die nur phantasierten Übergriffe auf die „eigenen“ Frauen sind der häufigste Grund für Männer, aufeinander loszugehen. Auch die sogenannten religiösen Konflikte drehen sich vor allem um die Kontrolle von Mädchen und Frauen. Das ist nicht „Desintegration“, sondern Integration von Nachwuchsmachos in alte patriarchale Muster, die es in der deutschen wie in der türkischen Kultur gibt.
Dieses zu thematisieren, wäre die eigentliche publizistische Herausforderung. Hier besteht Diskussionsbedarf auch und gerade für die linke Öffentlichkeit. Denn im Zweifelsfall halten linke AusländerfreundInnen lieber den Mund, als sich an den beiden elektrisch aufgeladenen Polen Sexismus und Rassismus die Finger zu verbrennen. Wir schauen lieber weg, wenn 17jährige Türken Frauen anpöbeln oder türkische Familienväter blutjunge Anatolierinnen als Zweitfrau oder Hausmagd nach Berlin holen. Natürlich birgt die öffentliche Diskussion hierüber die Gefahr in sich, ausländerfeindliche Ressentiments zu bedienen. Aber wir haben keine Alternative. Wenn die multikulturelle Gesellschaft nicht an ihren inneren Konflikten zugrunde gehen soll, dann muß sie sie thematisieren. Ute Scheub
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen