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Tödliche Entscheidungen

Seit Jahren schon plädieren einige Mediziner und Bioethiker für eine Liberalisierung der Sterbehilfe. Jetzt haben sie ihr Ziel fast erreicht  ■ Von Klaus-Peter Görlitzer

Mit dieser Resonanz hatte der Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) nicht gerechnet. Kaum waren die Kernpunkte seines Entwurfs für eine neue „Richtlinie zur ärztlichen Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung“ durch einen taz-Bericht (21. April 1997) bekanntgeworden, hagelte es Proteste. Mit dem Verhaltenskodex werde „eine Grenze in Richtung Euthanasie überschritten“, meinte gar die Ärztin und Bundestagsabgeordnete der Grünen, Marina Steindor. Die Standesvertreter schreiben in ihrem Entwurf erstmals auch fest, unter welchen Bedingungen es Medizinern erlaubt sein soll, eine lebenserhaltende Behandlung abzubrechen bei Patienten, die überhaupt nicht im Sterben liegen.

Wie ernst das höchste deutsche Strafgericht ärztliche Richtlinien nimmt, erläuterte kürzlich der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof (BHG), Klaus Kutzer. „Wir nehmen sie zur Kenntnis und berücksichtigen sie bei unseren Entscheidungen“, sagte er der renommierten Zeitschrift für Rechtspolitik, fügte aber hinzu: „Rechtlich bindend sind sie für uns nicht. Sie orientieren sich in der Regel an der herrschenden Rechtsprechung, sie sind also eher konservativ.“

Daß er Reformen durchaus zugeneigt ist, ließ BGH-Richter Kutzer auch durchblicken: „Der Erkenntnisprozeß unserer Richter läßt sich aber nicht aufhalten.“ In einer „besonderen Ausnahmesituation“, so die Einschätzung des BGH-Richters, könne auch mal eine ärztliche Tötung auf Verlangen des Patienten „gerechtfertigt oder entschuldigt“ sein. Zwar verbietet Paragraph 216 des Strafgesetzbuches solche tödlichen Taten. Doch hätten die Gerichte bei dessen Auslegung einen „gewissen Spielraum“, sagte Kutzer und fügte hinzu: „Ob sie ihn nutzen, bleibt abzuwarten.“

So weit wie der hohe Richter geht der Vorstand der Bundesärztekammer nicht mit seiner Sterbehilfe-Richtlinie. Ärztepräsident Karsten Vilmar versäumt denn auch keine Gelegenheit zu betonen, daß für die BÄK „aktive Sterbehilfe, etwa die tödliche Spritze oder der Gifttrank, ein „Tabu“ bleibe – und zwar auch dann, wenn der Patient danach verlange.

Davon abgesehen, können Kutzer und Kollegen mit dem Papier der Ärzterepräsentanten ganz zufrieden sein. Denn die Mediziner nehmen die BGH-Richter offensichtlich ernster als den Gesetzgeber. Bisher gibt es keinen deutschen Gesetzestext, der Ärzte ausdrücklich berechtigen oder gar verpflichten würde, Patienten durch Unterlassen einer lebenserhaltenden Behandlung vom Leben zum Tod zu befördern.

Trotzdem erlaubt der Richtlinienentwurf des BÄK-Vorstandes nun zum ersten Mal allgemeingültig, was der BGH 1994 in der Urteilsbegründung zu einem sogenannten „Grenzfall“ recht vorsichtig als „ausnahmsweise nicht von vornherein ausgeschlossen“ ansah: ärztliche Sterbehilfe auch dann, wenn der Patient überhaupt nicht im Sterben liegt, mit dem Abbruch der Behandlung „im Tatzeitpunkt“ aber „mutmaßlich einverstanden“ ist. Konkret ging es darum, ob und wie der Nahrungsentzug bei einer seit zweieinhalb Jahren bewußtlosen Rentnerin zu rechtfertigen sei.

BÄK-Vizepräsident Jörg-Dietrich Hoppe geißelte das BGH- Urteil seinerzeit als „Katastrophe“ und „Einfallstor“ für eine neue Euthanasiedebatte. Eine andere Sprache spricht, was der BÄK- Vorstand knapp drei Jahre später als Sterbehilfe-Richtlinie befürwortet. Der Entwurf sieht nun vor, daß bei Patienten im Wachkoma „ein Behandlungsabbruch lebenserhaltender Maßnahmen zulässig“ sei, „wenn dies dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht“.

Praktisch bedeutet das: Ein Bewußtloser, von dem vermutet wird, er wünsche keine Behandlung mehr, soll künftig auch einen Anspruch darauf haben, daß der Mediziner zum Beispiel den Beatmungsapparat abschaltet oder die künstliche Ernährung via Magensonde einstellt, die im BÄK-Entwurf auch nicht ausdrücklich zur garantierten „Basishilfe“ gezählt wird. Wer richtlinientreu handelt, würde den Tod des Patienten herbeiführen, etwa durch Ersticken oder Verhungern.

Den „Behandlungsabbruch“ müßten zwar die Ärzte verantworten, im Krankenhausalltag dürften sie das todbringende Tun oder Unterlassen aber meist von Schwestern oder Pflegern verlangen. Als wichtige Anhaltspunkte zur Ermittlung des „mutmaßlichen Willens“ sollen Mediziner gemäß Richtlinienentwurf frühere schriftliche Äußerungen des Betroffenen zu Rate ziehen, außerdem eine von ihm benannte Vertrauensperson befragen oder die Meinung eines Betreuers einholen.

Mit solchen Vorgaben zur Sterbehilfe bei Nichtsterbenden ist der BÄK-Vorstand den Formulierungen, welche die BGH-Richter 1994 zur Beurteilung eines seltenen „Grenzfalles“ geschrieben hatten, weitgehend gefolgt. Ganz überraschend ist diese Willensbildung nicht: Im siebenköpfigen BÄK- Ausschuß, der den Richtlinientext geschrieben hat, wirken auch drei namhafte Juristen mit, die seit vielen Jahren für eine „Liberalisierung“ der Sterbehilfe plädieren: der ehemalige BGH-Richter Erich Steffen sowie die Göttinger Juraprofessoren Erwin Deutsch und Hans-Ludwig Schreiber.

Haftungsexperte Deutsch empfahl bereits Mitte der achtziger Jahre, Patientenverfügungen zwecks rechtlicher Absicherung ärztlicher Sterbehilfeentscheidungen zu berücksichtigen. Schreiber ging unterdessen ins Detail: Mit einem Arbeitskreis von Professoren aus Strafrecht und Medizin präsentierte er 1986 den „Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe“. Die Reformwilligen schlugen damals vor, was heute offenbar auch BGH-Richter Kutzer vorschwebt: „In seltenen, aber tragischen Fällen“ sollten Richter bei der Tötung auf Verlangen von der Bestrafung der Ärzte absehen können. Und bei Menschen, die ihr „Bewußtsein unwiderbringlich verloren“ haben, wollten Schreiber und Mitautoren den Abbruch und das Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen als „nicht rechtswidrig“ ins Strafgesetzbuch schreiben.

Dazu kam es nicht. Der Entwurf fand keine Unterstützung im Bundestag, zumal ein Jahr vorher, 1985, zahlreiche Experten bei einer Anhörung im Rechtsausschuß vor einer gesetzlich legitimierten Ausweitung der Sterbehilfe gewarnt hatten.

Nun aber, gut ein Jahrzehnt später, könnte sich BÄK-Berater Schreiber doch noch inhaltlich durchsetzen – wenn der BÄK-Entwurf der alle Ärzte bindenden Richtlinie demnächst tatsächlich unverändert beschlossen würde. Damit würde – auch ohne Alternativgesetz – der Behandlungsabbruch bei mutmaßlich einverstandenen Bewußtlosen zugelassen. Mit dem Unterschied allerdings, daß der BÄK-Text als Voraussetzung für das tödliche Unterlassen heute keine „Unumkehrbarkeit“ der Bewußtlosigkeit voraussetzt. Angesichts der Fortschritte bei der Rehabilitation von Komapatienten wäre eine solche Anforderung auch wissenschaftlich nicht zu halten gewesen. Mehrere Studien, vornehmlich aus Großbritannien, belegen, daß ein Großteil der Patienten wieder aus dem Koma erwacht. Eine qualifizierte Frührehabilitation vorausgesetzt, sind solche Genesungen auch nach vielen Monaten oder gar Jahren im apallischen Stadium (Wachkoma) möglich. Der Bundesvorstand des Vereins der Schädel-Hirn-Patienten in Not, in dem Betroffene und ihre Angehörigen organisiert sind, schätzt aus seiner Erfahrung, daß zwei Drittel der Wachkomapatienten überleben. Teils werden sie wieder völlig selbständig und berufstätig, teils müssen sie mit Behinderungen leben, teils sind sie lebenslang auf Pflege angewiesen.

Daß sich solche Informationen inzwischen auch unter vielen Medizinern herumgesprochen haben, wurde Ende Mai beim Deutschen Ärztetag in Eisenach deutlich. Dort fand ein Antrag des BÄK- Vorstandsmitglieds Frank Ulrich Montgomery, die Sterbehilfe- Richtlinie „zu begrüßen“, keine Mehrheit. Professor Winfried Kahlkde erinnerte an „die Therapieerfolge bei Wachkomapatienten“ und beantragte, diese keineswegs dem Tod geweihten Menschen aus dem Sterbehilfe-Papier zu streichen. Statt dessen sollten spezielle Vorgaben für ihre Behandlung entwickelt werden. Diesen Vorschlag muß der BÄK-Vorstand nach dem Willen der Delegierten demnächst ebenso beraten wie den Antrag, ob und wie Schmerztherapie sowie das Engagement der Hospizbewegung berücksichtigt werden können.

Ende des Jahres will der BÄK- Vorstand die Richtlinie endgültig beschließen. „Wegen der herausragenden gesellschaftlichen Bedeutung des Themas“ hat man sich zu einem Schritt mit Seltenheitswert in der Geschichte der ärztlichen Standesvertretung entschlossen: Vorstandsmitglied Professor Eugen Beleites forderte zur „öffentlichen Diskussion“ über den Entwurf auf, mitreden könne „jeder Mann und jede Frau“. Zudem versprach Beleites, rechtzeitig vor der Entscheidung ein öffentliches Symposium zu veranstalten. Anzunehmen, daß dann auch der Gesetzgeber und seine mächtigsten Interpreten, sprich BGH-Richter, zu den Geladenen gehören werden. Spätestens dann böte sich eine Gelegenheit, zu prüfen, ob die Judikative tatsächlich den Absichten der Legislative folgt.

Belege für die Differenzen gibt es. Als der BÄK-Entwurf bekannt wurde, protestierte die Gesundheitspolitikerin Monika Knoche von Bündnis 90/Die Grünen: „Es gehört nicht zum ärztlichen Behandlungsauftrag, lebenserhaltende Maßnahmen bei Menschen abzubrechen, die sich überhaupt noch nicht im Sterbeprozeß befinden.“ Diese Einschätzung erscheint unvereinbar mit der Position von BGH-Richtern und BÄK-Vorständlern, die es legitim finden, Therapien einzustellen, sofern Patienten „mutmaßlich“ damit einverstanden sind.

Den empörten Worten sollen demnächst Taten folgen. Hüppe kündigte vor kurzem an, „spätestens im Oktober“ werde er mit anderen Unionsabgeordneten einen Antrag in den Bundestag einbringen, der Regierung und Parlament wachrütteln soll. Unter anderem werde der Gesetzgeber aufgefordert, „nicht zuzulassen, daß auf dem Weg von Richtlinien und außerrechtlichen Empfehlungen der vom Staat zu garantierende Schutz menschlichen Lebens unterhöhlt wird“.

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