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„Ich bin ein Provinzpolitiker“

Die Bundesminister Hans Eichel und Werner Müller greifen im Berliner Wahlkampf dem glücklosen SPD-Spitzenkandidaten Walter Momper kräftig unter die Arme  ■   Von Dorothee Winden

Ich habe schon einmal zu einer Abwahl von Eberhard Diepgen beigetragen, sagt Finanzminister Hans Eichel. Das war 1963 als Student an der FU.

ine einsame SPD-Fahne hängt von der Brüstung. In dem stickigen Saal, der ganz im funktionalen Betonstil der 70er-Jahre gehalten ist, läuft Finanzminister Hans Eichel gerade zu Hochform auf. Zu den Genossen ins Märkische Viertel, einer Hochhaussiedlung weit draußen im Nordwesten von Berlin, ist Eichel an diesem Abend gekommen, um SPD-Spitzenkandidat Walter Momper unter die Arme zu greifen. Doch bevor Eichel vor den 150 meist älteren Sozialdemokraten zu seiner Rede über „Stabile Finanzen – Soziale Gerechtigkeit“ ansetzt, plaudert er ungewohnt locker über seine ersten Eindrücke von Berlin. Den Potsdamer Platz, wo Eichel eine Wohnung bezogen hat, lobt er als „eine schöne Gegend.“ Nur nachts sei es „ein bisschen unruhig“, aber als Großstadtkind sei er das gewohnt, sagt Eichel. Als der Finanzminister dann erzählt, dass er von 1962 bis 1964 in Berlin studiert hat, ist das Eis gebrochen. „Als junger Linker habe ich nicht nur die Kulturszene in Ost- und West-Berlin erkundet, sondern auch zu etwas beigetragen, wozu ich auch jetzt wieder beitragen will“, sagt Eichel. „Ich habe damals Eberhard Diepgen als AStA-Vorsitzenden mit abgewählt.“ Da hat der Finanzminister die Lacher. 1963 fegte eine Urabstimmung den damals 22jährigen Diepgen aus dem AStA-Vorsitz der Freien Universität. 26 Jahre später sieht es allerdings gar nicht danach aus, als könne es der SPD gelingen, den CDU-Politiker Diepgen als Regierenden Bürgermeister abzulösen.

Trotzdem ist die Anekdote Balsam auf die Wunden der Berliner Genossen. Seit Januar sind die Umfragewerte der SPD stetig gesunken, von 37 auf 20 Prozent. „So viel Wind von vorne hat Walter Momper nicht verdient“, sagt Eichel und bekommt erneut Beifall, als er den Genossen vorhält: „Wenn wir Sozialdemokraten so gut über uns reden würden, wie wir sind, wären wir unschlagbar.“

Dann setzt Eichel an zu einem Volkshochschulkurs in Sachen Finanzpolitik: Jede Menge Steuerlöcher habe die rot-grüne Bundesregierung schon gestopft; die Steuerreform werde die Bezieher kleiner Einkommen entlasten und die Erhöhung der Mineralölsteuer werde zur Finanzierung der Renten verwendet. „Ein überschuldeter Staat kann auch keine Sozialleistungen mehr bringen“, sagt Eichel. Nur Einsparungen könnten langfristig die Handlungsfähigkeit des Staates sichern. Dann attackiert er die CDU: „Wo die Schwarzen regieren, werden Schulden gemacht, dass die Schwarte kracht. Ich weiß nicht, wer das Märchen in die Welt gesetzt hat, die Konservativen könnten mit Geld umgehen.“ Das kommt gut an. „Wir müssen uns nicht entschuldigen, dass wir den Karren aus dem Dreck ziehen, den andere reingefahren haben“, sagt Eichel. Auch das tut den Genossen gut. Diesem bescheiden auftretenden Eichel, der so grundehrlich wirkt, dem kauft man auch ein 30-Milliarden-Mark-Sparpaket ab. Kritische Nachfragen zu den Kürzungen kommen aus dem Publikum nicht.

„Ich war skeptisch, als Eichel mit seinem Sparkurs anfing“, sagt ein 25-jähriger Genosse. Seinen ersten Eindruck, Eichel vernachlässige vor lauter Sparen die soziale Gerechtigkeit, hat er inzwischen revidiert. „Das nehme ich ihm ab.“ Der Jurastudent, der bei der SPD-Urwahl am 17. Januar für Walter Momper stimmte, bewundert, „dass Momper sich nicht ermutigen lässt“.

Momper wirkte an diesem Abend kämpferischer als sonst. Sein vorbereitetes Redemanuskript hatte er nach zwei Minuten zur Seite gelegt und eine seiner seltenen freien Reden gehalten. „Die Kampagne von Eberhard Diepgen gegen die Rentenreform der Bundesregierung ist elend“, wetterte Momper. „Dagegen setzen wir die Aufklärung der Menschen. Fallen Sie nicht auf die Merkels und Schäubles herein!“

Am frühen Morgen hatte Momper bei einer Pressekonferenz mit Eichel und Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing noch angeschlagen gewirkt. Am Tag zuvor hatte sich die gesamte Hauptstadtpresse auf die Forderung des früheren SPD-Regierungssprechers Klaus Bölling gestürzt, Momper als Spitzenkandidat gegen SPD-Fraktionschef Klaus Böger auszuwechseln. Und das fünf Wochen vor der Wahl! Am Abend hat sich Momper wieder gefangen. Nach der Veranstaltung bleibt er noch eine ganze Weile im Kreise von Unterstützern stehen – irgend jemand schenkte ihm eine rote Rose.

„Es war einer seiner besseren Auftritte“, sagt der junge Jurastudent mit Kennermiene. Über die Mühen des SPD-Wahlkampfes sagt der Nachwuchsgenosse sarkastisch: „In der Berliner SPD ist man schwere Wahlkämpfe gewöhnt. Da steigt die Leidensfähigkeit irgendwann.“ Aber er gibt zu: „Im Bundestagswahlkampf war es ganz locker. Ohne diese Erfahrung wäre das jetzt viel schwerer zu ertragen.“

Den Wahlkämpfern schlägt an den Ständen die negative Stimmung geballt entgegen. Sascha John, der den Wahlkampf des örtlichen SPD-Kreisverbandes organisiert, hat bei den WählerInnen einen „relativ hohen Grad an Verwirrung und Ärger“ über die Bundespolitik diagnostiziert. „An vielen Stellen haben wir ein Vermittlungsproblem.“ Für einen Rentner, der am SPD-Stand rumgepöbelt habe, habe er sich zwanzig Minuten Zeit genommen, um ihn über die Rentenreform der Bundesregierung aufzuklären. Danach sei der Mann einigermaßen versöhnt von dannen gezogen. Ein anderer Erfahrungswert gibt Sascha John zu denken: Bei 1.500 „Wählerkontakten“ an den SPD-Ständen hat er in den letzten Wochen nur fünf überzeugte Befürworter von Rot-Grün getroffen. „Die Leute wollen Rot-Grün nicht“, ist seine Quintessenz. Auch innerparteilich zehren die schlechten Umfragewerte an der Motivation: „Wer hat da noch Lust, Plakate aufzustellen.“

Ein Problem, mit dem auch die Genossen im bürgerlichen Zehlendorf im Südwesten Berlins kämpfen. „Sie sehen doch, dass hier kaum Plakate hängen!“, sagt ein graubärtiger Genosse. Mit einer kleinen Gruppe älterer Männer sei er neulich plakatieren gewesen. „Es sind immer dieselben. Und es werden immer weniger.“ Er ist Lehrer, auch er hat in der Urwahl für Walter Momper gestimmt, er ist für Rot-Grün. Wie die Stimmung ist in Zehlendorf? „Schlecht“, lautet die knappe Auskunft. Da gerät der Auftritt von Wirtschaftsminister Werner Müller im Ratskeller Zehlendorf zum Lichtblick. Den Besuch des prominenten Gastes hat der örtliche Abgeordnetenhauskandidat Klaus-Uwe Benneter eingefädelt. Der kennt den Gerhard Schröder noch aus den gemeinsamen Juso-Zeiten. Bei Schröder lernte Benneter auch Werner Müller kennen, „als er noch Berater war“. Nun findet sich Müller in einem proppenvollen Saal wieder, in dem eine Herbstdekoration aus Strohballen mit Papp-Marienkäfern aufgebaut ist. Als Momper den Saal betritt, wird er mit Beifall begrüßt. Doch gleich verheddert sich Momper in eine seiner Ungeschicklichkeiten: „Ich finde, der Bundesminister kann viel besser über Wirtschaft sprechen, als das so ein Provinzpolitiker wie ich kann.“ Das sollte bescheiden klingen, irritiert aber bei einem Spitzenkandidaten, der seine Kompetenz in Wirtschaftsfragen in diesem Wahlkampf zum Markenzeichen machen will.

Als dagegen Müller über Probleme von Existenzgründern, die Unternehmenssteuerreform 2000 und 630-Mark-Jobs spricht, blitzt immer wieder sein trockener Humor auf. „Dass man als Minister besonders mächtig ist, war meine Vorstellung nicht. Deswegen wollte ich das ja auch nicht werden“, sagt der frühere Veba-Manager. Gelassen und locker antwortet Müller auf die unermüdlichen Fragen der rund hundert Versammelten. Zu einem älteren Mann, der erzählt, wie er trotz schwerer Krankheit wieder einen Job fand, sagt er teilnehmend: „Sie sind ein Vorbild, Sie haben trotz eines Schicksalsschlags aus eigener Initiative wieder Arbeit gefunden.“ Wo der Neuberliner Müller mühelos den Kontakt zum Publikum findet, verkündet Momper nur unbequeme Botschaften, und das ohne jeglichen Charme. Er verteidigt die Diäten der Abgeordneten, und auf die Klage eines Mannes über zu hohe Gewerbemieten antwortet er ein wenig gereizt: „Der einzige Schutz gegen zu hohe Mieten ist ein ausreichender Bestand an Wohnungen.“ Dafür habe die SPD gesorgt. Der Genosse Lehrer findet Momper „dröge“. Dabei habe er ihn doch gewählt, weil er Momper anders in Erinnerung gehabt habe. Müller sammelt derweil noch einen Sympathiepunkt, als er zugibt, dass er die Weitläufigkeit Berlins unterschätzt habe und sich etwas zu knapp im Bezirk Mitte verabredet habe. „Ich dachte nicht, dass ich innerhalb von Berlin eine halbe Stunde bis dahin brauche“, entschuldigt er seinen frühzeitigen Aufbruch.„Diejenigen, die sie wählen sollen, haben sie ja bisher nur wenig gefragt“, schlägt Müller vor. Doch auch Momper muss zum nächsten Termin und entschwindet eilig.

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