: Stasi? Immer dabei
Die DDR-Staatssicherheit wird gemeinhin als ostdeutsches Problem betrachtet. Aber die Stasi operierte ebenso in Westdeutschland – sogar bei den Grünen. In dem Buch „Die unterwanderte Republik“ wird die Politik DDR-ergebener Kräfte in der Ökopartei enthüllt. Notizen zu einer wichtigen Vergangenheitsbewältigung von Hubertus Knabe
Am 12. Mai 1983 reiste die grüne Bundestagsabgeordnete Petra Kelly nach Ostberlin, um dort ein Plakat zu entrollen. Stasi-Mitarbeiter beendeten die Aktion nach wenigen Minuten. Kelly und ihre vier Mitstreiter wurden festgenommen – und wenig später höflich-entschuldigend wieder freigelassen. Die Stasi hatte realisiert, dass sie die prominenteste Gegnerin der Nato-Nachrüstung in Gewahrsam genommen hatte.
Ein Ausweg aus der Blockkonfrontation schien gerade in Deutschland möglich, wenn beherzigt würde, was die Russell-Friedensstiftung in einem Aufruf so formuliert hatte: „Wir müssen lernen, nicht gegenüber dem 'Osten‘ oder dem 'Westen‘, sondern untereinander loyal zu sein.“ Für die SED eine Schreckensvorstellung. Mit allen Mitteln versuchte sie, eine unabhängige Friedensbewegung zu verhindern. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) wurde beauftragt, auch im Westen die „gefährlichen“ Bestrebungen zurückzudrängen. Stasi-Dokumente belegen heute, welchen Einfluss der DDR-Geheimdienst insbesondere auf die grüne Deutschlandpolitik hatte. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Bundestagsabgeordnete Dirk Schneider, von 1975 bis 1989 vom MfS als Inoffizieller Mitarbeiter „Ludwig“ geführt.
„Daß es möglich war“, so bescheinigten ihm 1984 die Fraktionssprecherinnen Anne Borgmann, Antje Vollmer und Waltraud Schoppe, „aktuell in einer Bundestagsdebatte über den Honecker-Besuch so etwas wie ein konsensfähiges deutschlandpolitisches Konzept der Grünen vorzustellen, daran hat er erheblichen Anteil.“ Schneider, dem Bundestag von 1983 bis 1985 angehörend, war Mitglied des innerdeutschen Ausschusses und deutschlandpolitischer Fraktionssprecher. Intern trug er den Spitznamen „Ständige Vertretung der DDR“. Exakt in seine Mandatszeit fällt der Kurswechsel der Grünen in ihrem Verhältnis zur DDR.
Dank der Aktenvernichtung in der Wendezeit ist der IM-Vorgang „Ludwig“ nicht überliefert. Schneider, der 1990 zur PDS überwechselte, behauptete damals, er habe bei seinen Kontakten zu DDR-Vertretern nicht informiert, sondern diskutiert. Schützenhilfe bekam er von einem Stasi-Major, der erklärte, das MfS habe zu Schneider unter der Legende eines „politischen Gesprächsaustausches“ Kontakt aufgenommen. 1996 wurde das Verfahren gegen Schneider eingestellt.
Erst durch neu aufgefundene Stasi-Unterlagen wurde das ganze Ausmaß der Kooperation zwischen „Ludwig“ und dem MfS offenbar. Knapp 330 Informationslieferungen registrierte die Auswertungsabteilung der HVA bis 1987, davon ein großer Teil aus dem Innenleben der Bundestagsfraktion. „Ludwig“ berichtete nicht nur über die Fraktions- und Ausschusssitzungen in Bonn, die aktuelle Situation innerhalb der Grünen. Er lieferte auch regelmäßig „angeforderte Einschätzungen“ zu führenden Grünenpolitikern wie Joschka Fischer, Jutta Ditfurth oder Rudolf Bahro.
Zugleich informierte „Ludwig“ die Stasi über die sensiblen Verbindungen zu Friedens- und Umweltaktivisten in der DDR wie über die „Aktivitäten von sozialismusfeindlichen Kräften in den grün-alternativen Bewegungen“ sowie den „Verlauf“ von „Gesprächen der Mitglieder der Fraktion der Grünen im Bundestag, Dirk Schneider und Antje Vollmer am 19. Dezember 1984 mit feindlich-negativen Kräften in der DDR“.
Auch über eine „geplante Provokation in der DDR-Hauptstadt durch Mitglieder der Grünen“ setzte er die Stasi ins Bild. Petra Kellys Aktion auf dem Alexanderplatz wurde von der SED mit einer Umarmungsstrategie beantwortet. Statt sie über die Grenze abzuschieben, durfte sie einen Brief an Erich Honecker abgeben – den dieser mit einer Einladung zu einem offiziellen Gespräch beantwortete. Die SED brauchte Kelly als Bündnispartner im Kampf gegen die Nachrüstung.
Zum ersten Mal bekamen die Grünen auf diese Weise Gelegenheit, mit einem amtierenden Staatschef zu konferieren. Kopfzerbrechen bereitete der SED allerdings, dass Petra Kelly vorhatte, in Ostberlin erneut eine unkontrollierte Friedensaktion durchzuführen – zusammen mit ostdeutschen Friedensgruppen. Klar war dem MfS, daß sich die oppositionserprobte Kelly von ihren Absichten durch die SED kaum abbringen lassen würde – der Druck musste aus den eigenen Reihen kommen. Unter Führung von Schneider formierte sich nun in der Fraktion wachsende Kritik gegen Kellys Ansatz eines Zusammengehens mit ostdeutschen Friedensgruppen. Schneider gehörte zu der Delegation, die die Grünen für das im Oktober 1983 geplante Honecker-Gespräch nominierten. Eine „interne Quelle“ informierte die Stasi über alle Vorbereitungen. Befriedigt vernahm die Stasi, dass es unter den Beteiligten „keine einheitliche Auffassung“ über eine öffentlichkeitswirksame Aktion in Ostberlin gab.
Tatsächlich setzten sich jene durch, die eine gemeinsame Aktion mit ostdeutschen Friedensgruppen am Tage des Honecker-Gespräches ablehnten. Weitgehend unbemerkt von der Bevölkerung entrollten die Grünen lediglich in den Abendstunden vor dem Staatsratsgebäude der DDR vier Transparente und trafen sich privat mit einigen Friedensaktivisten und Vertretern der Kirche. Nur Petra Kelly präsentierte sich dem verdutzten Generalsekretär in einem T-Shirt, auf dem das in der DDR verbotene Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ prangte – qua Fototermin kam es am nächsten Tag bis in die Spalten des Neuen Deutschlands.
Bei dem Treffen hatten die Grünen den SED-Chef allerdings darüber informiert, dass sie wenige Tage später mit Friedensengagierten aus der DDR die Botschaften der UdSSR und der USA aufsuchen und dort eine gleich lautende Petition übergeben wollten. Die SED-Führung wirkte nun vor allem über eingeweihte Kirchenvertreter – insbesondere den damaligen Oberkonsistorialrat Manfred Stolpe – massiv auf die Organisatoren ein, von dem Vorhaben Abstand zu nehmen.
Innerhalb der Grünen kam es in der Folge zu erheblichen Spannungen. Schneider distanzierte sich öffentlich von der Friedensaktion und stellte Kelly und Bundesgeschäftsführer Lukas Beckmann in der Partei als politikunfähig hin. Jetzt bedauerte auch Otto Schily, dass durch das Auftreten der Grünen in der DDR „vieles in Scherben gegangen sei, was nun wieder mühsam aufgebaut werden müsse“. Unter diesen Umständen kam es bald zu einer Neuorientierung der Politik der Grünen – jetzt ging es ihnen vor allem darum, zu den Machthabern in Ostberlin ein besseres Verhältnis herzustellen. Im August 1984 erfuhr die SED von der Bundestagsabgeordneten Gabi Gottwald, „daß eine maßgebliche Gruppe der Grünen um Dirk Schneider die Absicht habe, seriöse Kontakte zur SED herzustellen und dabei auf alle spektakulären Aktionen zu verzichten“. Im September betonte Schneider zusammen mit Fraktionssprecherin Anne Borgmann in einer Presseerklärung, dass eine Politik der Wiedervereinigung Deutschlands für die Grünen unakzeptabel sei: „Eine solche Politik halten wir für friedensbedrohend.“
Im Oktober überzeugte Schneider die Bundestagsfraktion, in den Haushaltsberatungen die Auflösung des Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen und die Einstellung der Zuschüsse für den Rundfunksender Rias zu beantragen. Im November 1984 reisten Vollmer und Schneider nach Ostberlin, um sich dort mit SED-Politbüromitglied Herbert Häber zu treffen. Laut Protokoll gab ihm Antje Vollmer mehrfach zu verstehen, dass die Schuld für die „bekannten Irritationen“ zwischen SED und Grünen bei letzteren liege. „Für Vorbehalte der DDR ihnen gegenüber hätten sie Verständnis. In wesentlichen politischen Auffassungen stände man sich jedoch viel näher als mit Politikern der 'etablierten‘ Bonner Parteien.“ Wiederholt versicherten beide Abgeordneten, „daß sie und ihre Freunde alles, was sie tun könnten, tun wollten, um zu verhindern, daß Angehörige der Grünen sich an Aktivitäten gegen die DDR beteiligen“. Das MfS in einer streng geheimen Information: „Vorliegende Angaben aus Führungskreisen der Grünen bestätigen den sich seit Mitte dieses Jahres abzeichnenden Stimmungsumschwung in der Bundestagsfraktion der Grünen hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber der DDR zugunsten der realistischer denkenden Funktionäre um D. Schneider.“
Tatsächlich legte Schneiders Mitarbeiter Jürgen Schnappertz der Fraktion im Februar 1985 einen Entschließungsantrag vor, der Honeckers Forderungen allesamt übernahm. Die Bundesregierung wurde darin unter anderem aufgefordert, die Staatsbürgerschaft von Bürgern der DDR zu „respektieren“, für eine Auflösung der Erfassungsstelle Salzgitter einzutreten und die Aufgaben des innerdeutschen Ministeriums auf das Bundeskanzleramt und das Auswärtige Amt zu übertragen. Weil der Antrag anderen Grünen jedoch „zu sozialdemokratisch“ erschien, wurde er nicht in den Bundestag eingebracht. Über all diese Entwicklungen wurde die Stasi den überlieferten Unterlagen zufolge von „Ludwig“ ausgiebig informiert.
Die Unterstützung der kritischen Gruppen in der DDR durch Petra Kelly und andere Grünen-Politiker geriet in der Fraktion nun immer mehr unter Beschuss. In einer internen Begründung Erich Mielkes für das Einreiseverbot gegenüber Petra Kelly und Gert Bastian hieß es im Dezember 1985: „Von maßgeblichen realistischer denkenden Vertretern der 'Grünen‘ wird zunehmend Kritik an den 'deutschlandpolitischen‘ Positionen von P. Kelly und G. Bastian geübt. Ihr spontanes, unüberlegtes und provokatives Auftreten stelle die Fraktion vor ständig neue Probleme und belaste den von der Fraktionsführung angestrebten politischen Dialog mit der DDR-Führung.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen