: Seltene Momente der Stille
Die Architektur erweist sich als schwierig: Die verwinkelten Gänge des Baus verstärken die Orientierungslosigkeit, die sich beim Besucher bald einstellt
aus Berlin PHILIPP GESSLER
„Lassen Sie sich Zeit“, sagt die freundliche Dame und schließt die schwere Tür. Dunkler als die Nacht ist es hier im „Holocaust-Tower“, nur dort oben rechts ist ein diffuses Licht, auch aus den Türschlitzen strahlt noch etwas. Sonst ist nichts hier, keine Sterne, kein Abglanz der Lichter Berlins, nur das leise Rauschen von Bäumen und entfernt vorbeifahrender Autos. Wie hoch ist dieser Turm? Sind die Augen eigentlich auf? Wieviel Minuten sind schon vergangen? Das Gefühl für Raum und Zeit schwindet. Geht die Tür wieder auf?! Gott sei Dank, die Panikattacke verfliegt im Licht des Museums. Ja, sagt die Turm-Wächterin, einige würden das nicht aushalten. Manche Shoah-Überlebende weinten, wenn sie wieder ins Licht träten.
„Very spectacular“
Selten sind solche Momente der Stille hier im Jüdischen Museum Berlin – und das liegt nicht nur an den hohen Erwartungen und dem immensen Medieninteresse, mit dem der expressive Zickzackbau Daniel Libeskinds bereits seit Monaten konfrontiert ist. Der US-Architekt läuft vor dem Galadiner noch schnell durch die gerade eröffnete Erstausstellung, zeigt einer Bekannten im Abendkleid die Gänge des Untergeschosses seines 120-Millionen-Mark-Baus: „Perfect, perfect“, murmelt er mit leuchtenden Augen, „very spectacular“, raunt er ihr auch im „Holocaust-Tower“ zu, solange die Tür noch auf ist.
„Very spectacular“, das ist eine gute Zusammenfassung dessen, was da am Sonntag abend in Berlin-Kreuzberg zu erleben war. Ein „Weltkulturereignis“, hat es die Süddeutsche Zeitung genannt. Museumsdirektor Michael Blumenthal hat tief in die Trickkiste der PR-Profis gegriffen. Drei Tage lang wird das Museum in Kreuzberg eröffnet – und wer am Sonntag abend zu den 850 geladenen Gästen gehörte, konnte von sich sagen, dass er es gesellschaftlich wohl geschafft hat: Man saß vielleicht neben dem Bundespräsidenten oder dem Kanzler mit Gattin, einem von elf Ministern, neben Wirtschaftsführern, etwas Showbizz und internationalen Politikstars wie dem früheren US-Außenminister Henry Kissinger. Und natürlich war auch fast alles da, was in der jüdischen Welt einen Namen hat.
Ein „to die for invite“ hat Newsweek das Galadiner genannt – und sicher hat es was, im Gedränge plötzlich neben der schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis zu stehen, die breitschultrige Herren ebenfalls zunächst daran hindern, gleich mit dem Kanzler in die Ausstellung zu gehen. Nein, das läuft hier abgestuft, selbst die Bundesminister dürfen ihrem Chef erst nach etwa zehn Minuten folgen.
Furcht vor einem „Disneyland“
Und die Ausstellung? Die erscheint an diesem Abend fast nebensächlich. Dabei war über sie seit etwa anderthalb Jahren heftig diskutiert worden, ohne dass sie überhaupt zu sehen war. Bald ein Dutzend Fragen wurden immer wieder gestellt: Wie ist die tragisch-traurige Geschichte des fast 2000-jährigen Lebens von Juden auf deutschem Boden darstellbar? Ist das Haus mehr als ein Holocaust-Museum? Wieviel Raum nimmt der beispiellose Mord an Millionen ein? Läuft in der Ausstellung alles auf ihn hinaus? Ist die Architektur „bespielbar“, erdrückt der dominante Bau die Exponate? Lassen die vielen schrägen Wände, schlitzartigen Fenster und vor allem die „voids“, die Leerräume Libeskinds, überhaupt genug Platz, um sinnvoll Objekte zu platzieren? Schon das leere Gebäude ist von fast einer halben Million Menschen besucht worden, wovon ein Drittel forderte, das Gebäude ganz leer zu lassen, weil es nur unbespielt weiter als Holocaust-Mahnmal funktioniert, zu dem es im Laufe der Jahre geronnen ist.
Wie ist schließlich darzustellen, was alles fehlt, weil es durch den Schwund der Jahrhunderte oder die Zerstörungswut der Judenfeinde vernichtet wurde? Wird das Ganze zu amerikanisch, ein jüdisches „Disneyland“, weil der Direktor kein Museumsprofi und sein Ausstellungsmacher Ken Gorbey kein Jude ist? Wird der Neuseeländer die Ausstellung in Berlin ebenso interaktiv-techniklastig machen wie das Nationalmuseum in Wellington?
Um es knapp zu sagen: Die meisten Antworten fallen negativ aus. Das Jüdische Museum Berlin ist zwar kein Holocaust-Museum geworden, aber wenn man, wie es die Architektur vorgibt, zuerst durch die große Shoah- und Exil-Abteilung und dann recht mühsam mehrere Stockwerke hinaufsteigen muss, bis man zum Beginn der Ausstellung kommt – dann sind diese Eindrücke schon so stark, dass die Jahrhunderte davor tatsächlich eher als Vorgeschichte des Genozids daherkommen. Der Holocaust wird in der Schau noch einmal thematisiert, an der chronologisch richtigen Stelle. Aber dort kommt er ziemlich einfallslos daher: Vor allem auf einer zentralen schwarzen Wand wird der Prozess der Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik der Nazis gegenüber Juden geschildert. Von dem löblichen Vorhaben, diese Geschichte aus der Sicht der Opfer und vor allem ihre Reaktion auf diese Verfolgung zu schildern, bleibt nur wenig übrig, und das überzeugt kaum.
Auch die Architektur erweist sich schwieriger als erhofft: Die verwinkelten Gänge des Baus verstärken eine Orientierungslosigkeit, die sich relativ schnell beim Besucher einstellt, da die Ausstellung es nicht vermag, ihre Grundlinien deutlich zu machen: Die Exponate und Themen hüpfen durch die Jahrhunderte: Gerade hatte man noch die Erfurter Bibel aus dem 14. Jahrhundert, groß wie ein Tisch, gesehen – zehn Minuten später geht es wieder zurück zu den ersten Kreuzzügen im 11. Jahrhundert. Eben war man noch im tiefen Mittelalter der Salier, schon stolpert man in der frühen Neuzeit herum, ohne dass man den Übergang bemerkt hat. Die sogenannte „Glückel von Hameln“, eine jüdische Hausfrau und Mutter von 14 Kindern aus dem 17. Jahrhundert, erhält fast so viel Platz wie die ganze Mittelalterabteilung – warum aber diese Frau jetzt so eminent wichtig oder was an ihr so beispielhaft war, wird nicht deutlich.
Belehrend und manchmal kitschig
Die Verwirrung, die sich leicht einstellt, hat ihren Ursprung vor allem auch darin, dass die Schau zu viele kleine Geschichten erzählt, zu viele interaktive Medien oder Spiele anbietet, die vom Weg ablenken. Es ist ein wenig wie beim MTV-Glotzen, dass einen die bunten Sinnesreize zwar unterhalten, oft belustigen und manchmal sogar belehren können, das alles aber – sorry! – ziemlich oberflächlich daherkommt. Am Ende schwirrt einem der Kopf, und man fragt sich, nachdem man mal wieder im Kreis herumgelaufen ist, was man eben eigentlich gesehen hat. Hier ist kein Platz, keine Stille für eine Konzentration auf Exponate, die für sich sprechen. Dies ist in erster Linie ein Museum für eine Generation, die mit 48 TV-Kanälen, Gameboys und Computerwelten aufgewachsen ist. Jugendlichen dürfte die Schau gefallen. Das ist immerhin schon was.
Und natürlich ist das mehr als „Disneyland“. Aber es ist eben sehr amerikanisch. Dazu gehört auch, dass ein von einem Mäzen finanziertes interaktives „Lernzentrum“, das auch seinen Namen trägt, mit einer ganzen Batterie von Bildschirmen gleich neben dem unterirdischen Holocaust-Eintritt angesiedelt ist. Es ist ähnlich wie der große Film „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg: Eindrucksvoll schon, aber sehr belehrend – und manchmal auch ein wenig kitschig.
Das, was die Stärke von Libeskinds Bau ausmachte, der Mut zur Lücke, zur Leerstelle, zum Horror Vacui – dieser Mut fehlt der Ausstellung. Zwar gibt es die „gallery of the missing“ des Dresdner Künstlers Via Lewandosky – aber in all dem Trubel um diese Installationen herum, angesichts ihrer technischen Schwächen und wegen zu erwartender Besuchermassen verpufft ihre Wirkung. Man kann sich selber Münzen prägen, kann in einem Computerspiel einen Hofjuden spielen, goldene Kugeln durch ein Röhrensystem rollen lassen und an einem großen „Lebensrad“ drehen. Das alles aber dürfte vor allem Kindern gefallen, für die tatsächlich mit Spielecken, künstlichen Höhlen und Durchgängen Gutes und Cleveres geschaffen wurde. Schön, dass die Ausstellungsleute so an die junge Generation gedacht haben. Aber ist das dann noch ein internationales Kulturereignis, auf das nicht zuletzt Blumenthal mit seiner exklusiven Gästeliste und dem immer wieder geäußerten Satz zielte: Auf dieses Museum blicke die Welt?
Fast 30 Jahre wurde über dieses Museum diskutiert. Ein Ausstellungsmacher, Shaike Weinberg, ist über der Arbeit für die Schau gestorben, der erste Direktor im Konflikt über dessen Ausrichtung und Autonomie gefeuert worden, ein Vizedirektor hat den Job geschmissen. An die 500 Journalisten von der Los Angeles Times bis zur chinesischen Volkszeitung berichten über die Eröffnung der Erstausstellung. Die FAZ juxt das Galadiner zum Beweis der endlich erreichten „Normalität“ der Berliner Republik hoch, der Tagesspiegel sieht die Ausstellung in ähnlicher Ausrichtung als Meilenstein der Politik eines Landes, das nun angesichts glaubwürdiger Gedenkarbeit auch wieder Auslandseinsätze seiner Armee befürworten könne.
Kurz: Dieses Museum hatte von Anfang so viele eigene Tragödien, so viel Symbolik und so viele Erwartungen zu verkraften, dass die versuchte Leichtigkeit seiner Ausstellung nicht mehr passt. Trotz vieler guter Ideen, trotz einiger eindrucksvoller Exponate und trotz gelegentlichen Mutes bei seiner Konzeption enttäuscht die Schau am Ende. Geschichten werden erzählt, aber keine Geschichte. Zur Schlichtheit fehlte die Größe. Im „memory void“, einer Leerstelle Libeskinds, die von dem israelischen Künstler Menashe Kadishman bespielt wurde, knistern auf dem Boden im Dunkeln ganz leise hunderte Tontafeln, die das Aussehen von schreienden Kindergesichtern haben. So hätte das Museum sein können.
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