Kanzlerschelte aus Karlsruhe

Exverfassungsrichter Simon warnt vor Diffamierung von Kriegsgegnern: „Parlamentsvorbehalt keine Formalie“

KARLSRUHE taz ■ Der ehemalige Verfassungsrichter Helmut Simon hat an Bundeskanzler Gerhard Schröder appelliert, eine „freimütige Auseinandersetzung“ über Bundeswehr-Einsätze im Anti-Terror-Kampf zuzulassen. „Sie sind einer der wenigen, die verhindern können, dass die Terrorschläge in den USA nun auch noch schlimme Schäden für unsere politische Kultur auslösen“, heißt es in einem Brief, den Simon an Schröder richtete.

Der Verfassungsrichter, der bis Anfang der 90er-Jahre im Amt war, begründete seinen Vorstoß mit der Karlsruher Rechtsprechung zum Parlamentsvorbehalt bei Militäreinsätzen. „Es ist kein Formalismus, dass über Bundeswehreinsätze nicht die Regierung, sondern das Parlament entscheiden soll“, sagte Simon gestern bei einem Fachgespräch der Gustav-Heinemann-Initiative in Karlsruhe. „Vielmehr wollte das Verfassungsgericht gerade den offenen Streit der Meinungen über so grundlegende Fragen sicherstellen.“ Auch von der Regierungslinie abweichende Positionen seien „zumindest vertretbar“, so Simon. Der Kanzler solle daher „das Mögliche tun“, um die Diffamierung von Kritikern zu vermeiden.

Außerdem betonte Simon, es sei verfassungsrechtlich „völlig gleichgültig“, wie sich eine Bundestagsmehrheit zusammensetze. Die von den Medien betriebene Zuspitzung auf die so genannte Kanzlermehrheit sei ein „Unding“, die nur dazu diene, Abgeordnete unter Druck zu setzen.

Der emeritierte Politikprofessor Jürgen Seifert bezeichnete es in dem Fachgespräch als „sehr merkwürdig“, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 1994 nur eine einfache Mehrheit für Militäreinsätze im Ausland vorgeschrieben habe. „Im Verteidigungsfall, also wenn Deutschland angegriffen wird, ist eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erforderlich, wenn aber die Bundeswehr in fremden Ländern aktiv wird, dann genügt eine einfache Mehrheit.“ Seifert plädierte deshalb für eine entsprechende Stärkung der Parlamentsrechte im Grundgesetz.

Der Regierungsantrag selbst wurde bei der Veranstaltung unterschiedlich bewertet. So glaubt der Gießener Rechtsprofessor Thilo Marauhn, dass sich das Mandat noch im Rahmen der „sehr weichen“ Karlsruher Vorgaben halte. Dagegen äußerte der Richter am Bundesverwaltungsgericht Dieter Deiseroth „große Zweifel“, ob ein Beschluss, bei dem das Einsatzgebiet „ein Drittel des Globus“ umfassen könne, noch bestimmt genug sei.

CHRISTIAN RATH