piwik no script img

Wenigstens die Gebäude stehen

Das Gesellschaftsspiel das derzeit in Berlin gespielt wird, heißt „überversorgte Stadt“. Wie so oft gewinnt der, der am Ende übrig bleibt. Und wie das aussieht, zeigt ein Streifzug durch Kreuzberger Schulen, Bibliotheken und Jugendzentren

von WALTRAUD SCHWAB

Consulting-Firmen haben es errechnet: In Berlin gibt es von allem zu viel. Als „Überversorgung“ ist die These in den Sprachgebrauch der Metropole eingegangen. Eine Wortschöpfung wie eine Ohrfeige. Schwimmbad- und Bibliotheksbesucher, Kinder und Jugendliche bekommen sie insbesondere zu spüren. Spielplätze, Jugendclubs, Schulen und Fahrradwege sind Sparpotenziale seit Jahren. Denn wo keine Lobby ist, ist auch kein Aber. (Wo eine ist, ist eine Oper.)

Vielfach sind die Einrichtungen, denen die Mittel gekürzt werden, über die bezirklichen Haushalte abgedeckt. Gerade den Bezirken aber hat der Senat seit den Neunzigerjahren hohe Sparvorgaben aufgebürdet. Die neuen Pläne von Finanzsenator Thilo Sarrazin zielen in die gleiche Richtung. Dabei soll den Bezirken nun der letzte kameralistische Spielraum, nämlich die autonome Entscheidung über die Verteilung der verbliebenen Mittel, beschnitten werden.

Wie Überversorgung aussehen kann, zeigt ein Streifzug durch ein paar Einrichtungen des 150.000 Einwohner starken Bezirks Kreuzberg.

Die Kinderbibliothek

Nische oder Notwendigkeit? Im zweiten Stock eines denkmalgeschützten Gebäudes in der Glogauer Straße, im östlichsten Zipfel des Bezirks an der Grenze zu Neukölln, gibt es eine kleine Oase für Kinder. Überall im Raum hocken sie und blättern sich durch die Wunderländer der Alices, Harrys und Pippis. „Dann schmieden sie einen Kompott“, liest eine lockige Rothaarige nun schon zum dritten Mal irritiert. „Zeig“, ruft ihre Freundin. Aber auch sie kommt nicht weiter. Erst die Bibliothekarin löst das Rätsel.

Mit großem Engagement wird in der Kinderbibliothek die Lese- und Medienkompetenz der Heranwachsenden gefördert. In enger Zusammenarbeit mit Kitas und Schulen werden pädagogische Ansätze unterstützt, denn aufgrund der spezifischen Bevölkerungszusammensetzung herrscht in Kreuzberg der Bildungsnotstand. Unter diesen Vorzeichen obliegen allen vier Kreuzberger Bibliotheken mehr Aufgaben als nur die Ausleihe. Denn nichts darf vorausgesetzt werden, noch nicht einmal der Umgang mit den Büchern.

Täglich tummeln sich auf den 200 Quadratmetern in der Glogauer Straße ständig etwa 100 Kinder. Betreut werden sie von 2,5 Stellen Personal. Eine davon finanziert über den zweiten Arbeitsmarkt. Die Effizienz von Büchereien an den Ausleihzahlen zu messen, sei eine Rechnung, die nicht aufgehe, meint die Bibliothekarin Karin Seewald.

Die Kinderbibliothek ist ein sozialer Raum. Vor allem auch einer, der Mädchen zugute kommt. Manche verbringen ganze Nachmittage mit ihren Geschwistern hier. Wie die Pisa-Studie belegt, lesen sie mehr als Jungen. Für Mädchen aus traditionell orientalisch geprägten Familien, wie sie in Kreuzberg zum großen Teil leben, ist die Bibliothek gar einer der wenigen öffentlichen Orte, der nicht mit Verbot belegt ist.

Während im Jahr 2000 etwa 30.000 Mark für Sachmittel zur Verfügung standen, waren es im letzten Jahr 7.000 Mark, die zudem aus Bundesmitteln kamen. Für dieses Jahr gilt bisher Haushaltsstopp. Der Tod der Bibliotheken sei es, wenn nichts Neues eingekauft wird, sagt Seewald. Privates Engagement ersetzt nur bedingt den Mangel, wenngleich es eine Buchhändlerin im Kiez gibt, die der Bibliothek ihre Leseexemplare spendet, und auch die meisten Zeitschriftenabos gesponsert werden.

Seit ihrer Errichtung vor mehr als 100 Jahren hat sich in den Räumen eine Bibliothek befunden. Lesehalle nannte sich das damals. Auf den historischen Fotos sind Männer zu sehen, die an riesigen Tischen sitzen wie in einer Suppenküche. Einer neben dem anderen nehmen sie ihre geistige Nahrung zu sich. Die Erwachsenenbibliothek fiel jedoch 1994 den Sparbeschlüssen zum Opfer. Die Kinderbücherei aus dem Haus nebenan wurde hierher verlegt, das Nachbarhaus geschlossen. Werden die Kürzungsideen aus dem Hause Sarrazin durchgesetzt, sind viele Bibliotheken gefährdet.

Das Jugendzentrum

Im Chip sticht Farbgeruch in die Nase. Für ein Jugendzentrum – eins von dreien in bezirklicher Verantwortung – ist das Haus in der Reichenberger Straße überraschend grafittifrei. Das liegt an der Ausbildungsinitiative „Die Brücke“. Seit Monaten streichen die Jugendlichen, die dort ihre Malerlehre machen, die Wände des Gebäudes. Weil sich dabei Arbeitszeit nicht als Arbeitslohn niederschlägt, kommt das den Bezirk billig. Alles habe jedoch zwei Seiten, meint ein Mitarbeiter von Chip. Denn sobald die Jugendlichen ihren Gesellenbrief in der Tasche haben, stehen sie auf der Straße. Folgeprobleme sind bei der derzeitigen Haushaltslage nicht mit berücksichtigt .

Die gesetzlichen Vorgaben für Jugendarbeit sind wenig konkret. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz steht: „Die Angebote der Jugendarbeit […] sollen so rechtzeitig zur Verfügung stehen, dass Maßnahmen der Jugendsozialarbeit und Hilfe zur Erziehung nur im nicht vermeidbaren Umfang erforderlich werden.“ Jugendeinrichtungen sind demnach eine Kann-Leistung keine Muss-Leistung. Von daher sind sie schon seit Jahren von Kürzungen betroffen. 2002 hat das Chip sein Angebot erneut um 30 Prozent reduzieren müssen. Das verbliebene Geld fließt im Chip nahezu vollständig in den Bildungsbereich. An vorderster Stelle: Computerkurse, Bewerbungstraining und Hausaufgabenbetreuung. Denn unter den 2.000 Jugendlichen, die diesen Februar die Einrichtung besuchten, befinden sich viele, die sonst nur in Negativstatistiken Aufnahme finden: Schulschwänzer, Schulabbrecher, Arbeitslose und solche, die von Sozialhilfe leben. Mit 3,5 Stellen Personal ist nicht viel der Misere aufzufangen.

Das Rahmenkonzept für die Jugendarbeit ist von 1983. Vor zwanzig Jahren standen Selbstverwirklichung und Autonomie auf dem Plan. Heute dagegen Überlebensstrategien unter neoliberalen Vorzeichen. Die politischen Vorgaben für die Jugendarbeit, so ein Mitarbeiter von Chip, müsse diesen veränderten Bedingungen endlich Rechnung tragen.

Die Grundschule

Liebevoll kaschieren Zeichnungen von Kindern die seit Jahren nicht mehr gestrichenen Wände der E.-O.-Plauen-Grundschule am Mariannenplatz. 1978 haben die Treppenhäuser zum letzten Mal einen neuen Farbanstrich erhalten. Die Fenster, von denen die Farbe abgeplatzt ist, sind ein Dauerärgernis. Die Direktorin, Gerlinde Hohnhäuser, listet sie in jedem Antrag auf bauliche Unterhaltung auf.

Der Mangel wird in dieser Schule mit dem Engagement aller kaschiert. So schließt die Konrektorin derzeit die Schule auf, weil kein Ersatz für den erkrankten Hausmeister zur Verfügung gestellt werden kann. Die Putzkräfte verriegeln die Schule dann abends mitunter. Die Fünft- und Sechstklässler wiederum kehren die Schulräume vor. Stühle und Tische abwischen ist längst auf den Alltag der Schüler und Schülerinnen übergangen.

Im Vordergrund aber stehen schulische Rahmenpläne, die erfüllt werden müssen. Dies bei einer Schülerschaft, die zu 92 Prozent aus Kindern besteht, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. „Das Schildkröte wohnt in das Höhle“, radebrecht ein kleiner Junge der ersten Klasse und zeigt auf das passende Bild. Bis auf die Artikel ist alles korrekt, im Vergleich zu anderen Erstklässlern steht er schon gut da.

Zwar gibt es Förderunterricht und Unterricht im Fach Deutsch als Zweitsprache, dass die Schulen in dieser Ecke Berlins vielfach jedoch auch Alltagslernen vermitteln müssen, wird kaum berücksichtigt. „Hier kommen Kinder an, die noch nie in ihrem Leben eine Schere in der Hand hielten“, erzählt die Direktorin. „Viele Kinder können nicht zuhören, viele wollen keine Regeln einhalten, viele haben keine Ehrgeiz“, haben die Lehrer in der Schulleiterrunde im Februar diesen Jahres zusammengefasst. Längst aber sind Gelder für pädagogische Konzepte, die diese Voraussetzungen berücksichtigen, zusammengestrichen. Die Bildungspolititk gehe an den Bedürfnissen der Bevölkerung des Einzugsgebiets vorbei, konstatiert die Direktorin. Die Lehrer würden in Mängelverwaltung trainiert. Die Eigenverantwortlichkeit der Schulen sei erst ein Thema, seit es weniger Geld gebe.

Dies bestätigt die Direktorin der Adolf-Glaßbrenner-Grundschule, Gerlinde Hohnhäuser, im südwestlichen Kreuzberg. Der Sachmitteletat der Schule betrug im letzten Jahr 43.000 Mark. Den Hochrechnungen von Hohnhäuser zufolge bezahlen die Lehrer etwa noch einmal die gleiche Summe aus eigener Tasche, um den Schulbetrieb aufrechtzuerhalten. Anders als die E.-O.-Plauen-Schule kann sie auf einen Förderverein der Eltern zurückgreifen, was damit erklärt wird, dass der Anteil der Kinder nichtdeutscher Herkunft in ihrem Einzugsbereich unter 50 Prozent beträgt. An ihrer Schule allerdings krankt es am Sportunterricht, denn das Gesundheitsamt hat die Sporthalle wegen Pilzbefalls gesperrt. Ersatz ist eine Frage der Improvisation. Körperertüchtigung auf dem selbst begrünten Schulhof ist hier jedenfalls wieder im Kommen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen