: Einer, dem es zu viel wurde
Er ist wirklich so prominent geworden, wie er es sich erhoffte: Robert Steinhäuser, Amokläufer in Erfurt. Aber ist er ein Monster, ganz anders als die anderen, die nicht mordeten? Oder hat seine tödliche Verzweiflung eine Seite unserer Gesellschaft kenntlich gemacht, die die meisten gerne im Dunklen belassen würden?
von BJÖRN KERN
Ehrlich gesagt, kann ich das schon verstehen. Die Wut, die Verzweiflung, den Hass. Die Tat natürlich nicht, die kann man nicht verstehen. Warum die Hemmschwelle hier fiel und anderswo nicht? Wer soll das beantworten. Aber wenn man den Amokläufer einfrieren könnte, kurz vor dem Moment, in dem er die Grenze übertritt: Dann wäre er nicht allein. Bei weitem nicht.
Enttäuscht und frustriert sind wir alle. Hätte er die Hemmschwelle nicht übertreten, hätte ich vielleicht sogar Mitgefühl. Denn in Erfurt ist nicht plötzlich einer durchgedreht, in Erfurt ist es einem zu viel geworden.
Mich wundert, dass nicht öfter einer losschießt. Natürlich ist das Spekulation. Wir wissen ja nichts: Gewaltvideos, Waffenbesitz, Schulverweis – das ist alles und passt uns wunderbar. Denn es sieht aus, als könnten wir damit etwas erklären. Als reichte es, Gewaltvideos zu verbieten (wo das größte Gewaltvideo ohnehin live und rund um die Uhr auf CNN läuft) und den Zugang zu Schusswaffen zu erschweren.
Statt 18-Jährige sollen jetzt erst 21-Jährige Pistolen erwerben können? Manchmal glaube ich, ich bin im falschen Film. Denn die Tat an sich ist zwar eine Einzeltat, und wir können nur hoffen, dass es dabei bleibt. Aber das Gefühl dahinter, die Zukunftsarmut und Wut, die Ausweglosigkeit und Verzweiflung prägen eine ganze Generation. Und der lassen sich mit verschärften Gesetzen keine Perspektiven geben.
Es wird Zeit, das zuzugeben und endlich nicht mehr so zu tun, als stellten sich junge Menschen seit Achtundsechzig keine Sinnfragen mehr. Sicher ist es gewagt, hier Parallelen – ist Erfurt die Folge jener Jahre? – zu ziehen. Vielleicht waren die Motive (wenn man bei einer solchen Tat von Motiven sprechen kann) des Amokläufers völlig banal. Vielleicht würde er nicht einmal verstehen, was hier steht, oder zumindest nicht zustimmen. Das werden wir nie wissen, aber darum geht es auch nicht.
Denn mit seiner Tat hat der Amokläufer einen Nerv getroffen, der bisher verborgen blieb. Was immer die konkreten Anlässe in Erfurt waren: Interessant ist nur, was dahinter steht, wie das Fass zum Überlaufen kam. Und vor allem: wo überall es bereits randvoll gefüllt ist. Es bringt nichts, den Amokläufer zu dämonisieren und als durchgedrehten Einzeltäter abzuhaken. Zum einen wird sich ein Amoklauf an einer deutschen Schule wiederholen. Und vor allem sind die, die das Verhältnis zur Wirklichkeit verlieren und tatsächlich losschießen, ja nur die berühmte Spitze des Eisbergs.
Sogar Otto Schily möchte schauen, was jungen Menschen in der Gesellschaft fehlt, wo sie allein gelassen werden, wo ihnen Perspektiven gestohlen werden und wie das aufzufangen ist. Plötzlich erscheint selbst die Pisa-Studie in einem neuen Licht: Die Schule müsse wohl doch noch mehr leisten, als die Schüler nur für ökonomische Bedürfnisse fit zu machen. Das hätte man Cool-Schily gar nicht zugetraut.
Nicht zufällig führt beispielsweise Japan sowohl bei der wirtschaftlichen Globalisierung als auch bei der Selbstmordrate von Jugendlichen. Wenn man Schily ernst nähme, würde das unsere gesamte Gesellschaftsordnung auf den Kopf stellen. Daher wird er sich bald wieder darauf beschränken, hier und da ein Gesetz zu verschärfen oder das Thema in Rundschreiben an die Kultusministerien aufzugreifen.
Das ist traurig und logisch zugleich. Schließlich werden wir ja von Anfang an auf individuelle Karriere getrimmt, auf ein persönliches Bessersein und Voranschreiten, das für Kollektivität, für ein solidarisches Stützen und Auffangen, ja für den Anderen keinen Platz bietet. Heute halten wir uns für dumm, wenn wir auf die Realschule gehen und nicht aufs Gymnasium. (Geht noch jemand auf die Hauptschule?)
In der Oberstufe fliegen wir in die Staaten, weil man ohne fließendes Wirtschaftsamerikanisch nicht weit kommt. Wenn wir nach einem Jahr zurückkehren, stören wir uns nicht daran, dass wir zwischen allen Stühlen sitzen. Wir haben ja etwas für unsere Zukunft getan. Beim Abitur brauchen wir einen Einserschnitt und fühlen uns sonst, für den Rest des Lebens, nur halb legitimiert. Wir sammeln Praktika seit der Oberstufe, und wenn keine Firma, keine Redaktion mit Namen dabei ist, schämen wir uns, davon zu erzählen.
Wir studieren und spüren die Regelstudienzeit als Bedrohung: Wer lange studiert, weil er noch sucht, hat keine Chance. Der hat ja gegammelt. Wir verlassen unsere Freundin oder unseren Freund, um Auslandserfahrungen zu sammeln. Wir füttern unseren Lebenslauf, bis wir merken, dass wir selbst nichts gegessen haben. Wer sich da auch noch als Mann beweisen muss, hat es besonders schwer.
Für einen Möchtegernmacho wie Robert Steinhäuser kam es nicht in Frage, auf andere zuzugehen, von außen Hilfe zu suchen. Auf alten Bildern, die im Fernsehen auftauchten, gibt er sich betont cool und unverwundbar: Bierflasche am Mund, Sonnenbrille vor den Augen, Rapperpose. Beim Handball suchte er sich den Part aus, der am meisten einsteckt: Er stand im Tor. So einer geht nicht zum Psychologen, von sich aus schon gar nicht. Zum Psychologen gehen nur Schwache, „Weiber“.
Aber auch wer sich nicht als Mann beweisen muss, hat früh gelernt, nach vorn zu schauen und weiterzugehen. Denn wer zurücktritt und stehen bleibt, verpasst den Anschluss; wenn wir schnell genug voranhetzen, merken wir wenigstens nicht, dass wir gar nicht wissen, woran.
Das Phänomen ist natürlich nicht neu. Ein Sinn hat noch immer gefehlt, sobald man anfing, ihn zu suchen. Neu ist, dass wir das nicht mehr zugeben dürfen. Sinnsuche ist uncool. Wir leben ja nicht in den Siebzigerjahren. Politische und gesellschaftliche Alternativen haben sich nicht bewährt und sind gescheitert. Heißt es. Wir sind am Ende der Geschichte. Wir haben alles. Jetzt müssen wir nur noch glücklich werden damit. Und da zeigt uns keiner, wie das geht. Vorsichtige Nachfragen werden mit Spott oder Polemik beantwortet: Geht doch zurück in die Kommune oder Schafe züchten – alles schon gehabt. Aber nicht verstanden.
Denn es geht hier nicht um ein romantisches Zurückschauen. Wir wollen nicht in die Zeit vor der industriellen Revolution zurückfallen, wir wollen nicht verstaubte Träume (unserer Eltern?) aufleben lassen. Wir wollen hier und heute leben, aber anders als bisher. Wir wollen, dass kollektive Sinnstiftungen möglich sind, ohne im Verdacht zu stehen, totalitär zu sein.
Wir wollen uns engagieren und sehen, dass wir Erfolg damit haben. Wir möchten die Berufszyniker aus den Zeitungsredaktionen vertreiben. Wir möchten sagen dürfen, dass uns der Umweltschutz wichtig ist, ohne süffisant belächelt zu werden. Und wir möchten nicht als Fanatiker und Spinner abgetan werden, wenn wir gegen die wirtschaftliche Globalisierung demonstrieren, weil sie die Reichen reicher und die Armen ärmer macht.
Denn im Gegensatz zu denen jenseits der dreißig sind wir diejenigen, die wirklich fühlen und spüren, wovon wir sprechen. Soziale Ungerechtigkeit, die Ausbeutung der Umwelt, die Monetarisierung aller Lebensbereiche, das Zweckdenken, der Karrierezwang, die Ellbogengesellschaft – all das sind für uns keine Floskeln, die wir auf Befehl für besinnliche Gedenkreden auspacken. Nein, wenn wir Zeitung lesen und Radio hören, werden wir wütend und fühlen uns gemeint – in einem ganz existenziellen Sinn.
Sustainability ist für uns kein Modewort aus Managementseminaren, sondern ein echter Weg in eine lebenswerte Zukunft. Träger solcher Gedanken, wie beispielsweise das Komitee für Grundrechte und Demokratie oder selbst die Gewerkschaft Ver.di, hat der Spiegel-Zyniker Henryk M. Broder gerade als „Haufen Hundekacke“ bezeichnet. Da muss man dann wohl mitlachen oder eben zuschlagen: „People = shit“ heißt auch ein Stück der Heavy-Metal-Band, die Robert Steinhäuser, den alle nur noch „Erfurter Amokläufer“ nennen, gern gehört hat.
Die Vorstellung, junge Menschen seien entweder hip und auf der Loveparade oder konformistisch und karrieregeil, hat das Bewusstsein völlig zugekleistert. Wer da rausfällt, ist entweder fanatisch und gewalttätig („Seattle“, „Genua“) oder eben durchgedreht („Erfurt“). Dass aber gerade die Globalisierungskritiker eine fundamentale und berechtigte Kritik an unserer Lebensform äußern, will keiner wahrhaben.
Als Carlo Giuliani an einem Sommertag erschossen auf dem Pflaster lag, gab es einen kurzen Aufschrei, und dann wurde es wieder ruhig. Aber eben nur in der Öffentlichkeit. Denn der Wunsch, anders zu leben, das Gefühl, nicht gehört zu werden, die Wut über die Fremdbestimmung unseres Lebens sind geblieben. Und es ist nur natürlich, dass dieser Hass immer wieder einen Weg an die Oberfläche sucht.
BJÖRN KERN, 24, studiert in Tübingen Literaturwissenschaften. Der Held seines Debütromans „KIPPpunkt“ (dtv, München 2001, 124 Seiten, sieben Euro) landet nach einem Amoklauf in einer Justizvollzugsanstalt
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