Social Media und NS-Familiengeschichte: Menschen mit Nazihintergrund
Auf Instagram diskutiert das woke Dorf, wie Deutsche mit NS-Familiengeschichte umgehen. Im Fokus: eine Buchhändlerin. Das falsche Ziel.
Mein Großvater väterlicherseits war bei der SS. Das habe ich erst nach dem Tod meines eigenen Vaters erfahren. Als ich versucht habe, darüber in meiner Familie zu recherchieren, sagte mir ein Verwandter: „Aber nicht, dass du darüber einen Artikel schreibst.“
Die Recherche dauert an. Sie ist zeitaufwendig. So weit, so ungewöhnlich für Menschen mit „Nazihintergrund“. Diesen Begriff haben die Künstlerin Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah, Essayist:in, kürzlich in einem auf Instagram erschienenen Video vorgeschlagen, das viel geteilt und diskutiert wird. Die Bezeichnung soll für Menschen dienen, deren Vorfahren NS-Täter:innen waren. In dem Video eröffnen die beiden Kulturschaffenden eine Diskussion darüber, inwiefern Menschen mit Nazihintergrund heute noch über monetäres, soziales und kulturelles Kapital verfügen – und Einfluss haben.
Varatharajah und Hilal nennen viele Beispiele. Zwei Personen aus dem Berliner Kulturbereich stehen im Fokus: die Buchhändlerin Emilia von Senger und die Galeristin Julia Stoschek. Beide sind Nachfahrinnen hochrangiger Nazis. Julia Stoscheks Urgroßvater Max Brose war Unternehmer. Er wurde mit der Herstellung von Rüstungen für die Wehrmacht reich und war NSDAP-Mitglied. Julia Stoschek ist heute Milliardärin. Emilia von Sengers Familie ist alter Adel. Ihr Urgroßvater war hochrangiger Wehrmachtsgeneral, ihr Großvater war im Krieg in Russland und später Nato-Oberbefehlshaber. Für Stoschek und von Senger gilt: Beide Familien blieben auch nach Ende der NS-Zeit gut vernetzt.
Stoschek hat auf das Video bislang nicht reagiert. Von Senger hat einen Instagram-Post veröffentlicht, in dem sie schreibt: „Einen queerfeministischen Buchladen zu eröffnen und gleichzeitig nicht über seine Nazi Familiengeschichte (sic) zu sprechen, geht nicht.“ Ihr Buchladen sei „ein Gegenentwurf zu allen Werten, für die die drei Großväter standen“. Weiter schreibt sie, dass das Geld für ihren Buchladen nicht von den zuvor erwähnten Großeltern väterlicherseits stamme, sondern mütterlicherseits – und damit aus dem Zeitungsgeschäft, genauer gesagt den Dortmunder Ruhr Nachrichten. Dass von Senger ihren Nazihintergrund transparent macht, ist gut und sollte in Deutschland zur Gewohnheit werden – auch ohne öffentlichen Druck. Aber die Frage ist: Wie geht es nur weiter?
Und Instagram streitet über einen Buchladen
Auf Instagram wird nicht direkt zum Boykott des Buchladens aufgerufen, aber er wird suggeriert. Der Buchladen „She Said“ von von Senger hat einen queerfeministischen Schwerpunkt, verkauft nur Bücher von Frauen und queeren Autor:innen. In der NS-Zeit wurden Queers verfolgt. Die Bücher, die man heute in Sengers Buchhandlung kaufen kann, wären damals verbrannt worden.
Es ist wichtig, die Geschichten von Menschen mit Nazihintergrund zu analysieren und Kontinuitäten aufzuzeigen. Doch die Diskussion um die familiären Verbindungen einzelner Menschen drohen rechte Gefahren, die bis heute auf NS-Ideologien zurückgreifen, in den Hintergrund rücken zu lassen.
2012 wurde Burak Bektaş in Berlin-Neukölln erschossen. Sein Tod ist bis heute nicht aufgeklärt. In Neukölln gibt es außerdem eine Anschlagsserie auf migrantische Unternehmen, einen migrantischen linken Politiker und linke Einrichtungen. Im Dezember wurde ein Schwarzer Mann tot in einem Berliner Kanal gefunden. Antisemitismus ist in Deutschland Alltag. Und Instagram streitet über einen Neuköllner Buchladen.
Dabei ist es ein Buchladen, der sich dezidiert gegen NS-Ideologie stellt, während gleichzeitig Menschen wie Beatrix von Storch im Bundestag sitzen. Ein Mensch mit Nazihintergrund, ihr Großvater war NSDAP-Mitglied Nikolaus von Oldenburg, der den Vernichtungskrieg seiner Partei zur persönlichen Bereicherung nutzen wollte. Ein Mensch, dessen Politik auf Menschenverachtung fußt.
Warum investieren Leute auf Instagram ihre Energie darein, die nächste Sau durchs woke Dorf zu jagen, weil man endlich einen Bruch in der Biografie einer Einzelhändlerin gefunden hat?
Nazis müssen zur Verantwortung gezogen werden. Und ihre Nachfahren sind aufgefordert, sich ihrem Familienerbe zu stellen. Doch die gefährlichsten Nazinachfahren sitzen an anderer Stelle als in einem Buchladen. Sie sitzen in Machtpositionen in deutschen Institutionen. Beide, sowohl von Storch als auch von Senger, haben Profit gezogen aus ihrer Familiengeschichte. Nur tut die eine viel dafür, mit der Menschenverachtung ihrer Vorfahren zu brechen, die andere nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen