Volksbegehren „Berlin autofrei“: Ein angemessenes und verhältnismäßiges Vorhaben
Das Berliner Verfassungsgericht hat nichts gegen radikale Klimaschutzmaßnahmen einzuwenden. Es ist Zeit für den Verzicht aufs Auto in Innenstädten.

D en Deutschen ihr Auto wegnehmen – das ist ungefähr so, als wolle man ihren Fleischkonsum einschränken oder Einfamilienhäuser verbieten. Alles sinnvolle Maßnahmen im Kampf gegen die Klimakrise. Aber damit gewinnt man keine Wähler*innenstimmen. Schließlich würde das spürbare Einschränkungen bedeuten. Und auch wenn man weltweit einer der Hauptverursacher von CO2-Emissionen ist – Deutschland ist unter den Top Ten der Klimasünder – und der Verkehrssektor der drittgrößte Emittent ist, will man seine Lebensweise eigentlich nicht verändern.
Das müssen wir aber. Wollen wir auch in Zukunft noch einen bewohnbaren Planeten, braucht es radikale Maßnahmen. Der Verzicht aufs Auto in Innenstädten ist eine davon. Eine, die nicht nur das Klima rettet, sondern auch das Leben lebenswerter macht: weniger Verkehrstote, bessere Luft, mehr Aufenthaltsqualität. In Berlin kommt die Flächengerechtigkeit hinzu: Denn obwohl nur eine Minderheit ein Auto besitzt, ist der Großteil des öffentlichen Raums fürs heilige Blechle reserviert.
Trotz der vielen guten Gründe verzichtet kaum jemand freiwillig auf ein eigenes Auto. Im Gegenteil: In der Hauptstadt steigt der Bestand kontinuierlich an. Begünstigt wird das von einer autofreundlichen Verkehrspolitik der schwarz-roten Landesregierung, die Parkplätze zu Spottpreisen anbietet, Tempo 30 den Kampf ansagt und Fahrradwege abbaut.
Also hilft nur Zwang. Für das Allgemeinwohl Maßnahmen zu erlassen, die freiwillig niemand befolgt, ist eigentlich Aufgabe der Politik. Die kuscht aber vor dem Zorn der Autofahrer*innen, wie vor dem Einfluss der Autolobby. Auch deshalb hat sich in Berlin eine Initiative gegründet, die die Mobilitätswende direktdemokratisch vorantreiben will. Das Volksbegehren „Berlin autofrei“ sieht vor, dass Privatleute in der Innenstadt künftig nur noch zwölf Fahrten pro Kopf und Jahr unternehmen dürfen – später dann nur noch sechs. Dabei soll es zahlreiche Sondergenehmigungen geben. 50.000 Unterschriften haben die Aktivist*innen vor vier Jahren dafür gesammelt, mehr als doppelt so viel wie benötigt.
Senat erklärte Gesetzentwurf für grundsatzwidrig
Dem Senat – zu dieser Zeit bestehend aus SPD, Grünen und Linken – war das zu radikal. Er erklärte den Gesetzentwurf für grundgesetzwidrig und legte ihn dem Berliner Verfassungsgericht zur Prüfung vor. Das hat nun entschieden: Das Volksbegehren ist zulässig, der Gesetzentwurf angemessen und verhältnismäßig, die Maßnahmen sind geeignet und erforderlich, um das Ziel – den Schutz von Leben, Gesundheit und Klima – zu erreichen.
Doch so wegweisend das Urteil ist, so niederschmetternd sind die Reaktionen: Ablehnung über alle Parteigrenzen hinweg und sogar die Akteur*innen der Mobilitätswende fordern einen Kompromiss. Statt auf „Anti-Auto-Zwang“ setzen sie auf einen Ausbau des ÖPNV.
Doch damit macht man es sich zu einfach. Denn ein Ausbau des ÖPNV, damit die Menschen freiwillig ihr Auto stehen lassen, wird seit vielen Jahren gefordert. Und nichts geht voran. Dafür bräuchte es mehr Druck. Der ginge mit einer autoreduzierten Innenstadt automatisch einher. Schließlich muss es dann Alternativen zum Auto geben.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Dass der Gesetzentwurf mit seinen zahlreichen Ausnahmen „enormen bürokratischen Aufwand“ bedeutet, wie die Linke kritisiert, mag sein. Doch das hat in Deutschland bislang noch kaum ein Gesetz verhindert. Statt sich also hinter Ausflüchten zu verstecken, sollte die Politik mutige Lösungen finden. Vier Monate hat das Berliner Abgeordnetenhaus dafür nun Zeit. Schafft es das nicht, sind beim Volksbegehren die Berliner*innen gefragt. Und die bestehen eben zum größten Teil aus Nicht-Autofahrer*innen.
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