Zweiter Weltkrieg im russischen Kino: Wohin mit dem Grauen?
Einen anderen Blick auf den Zweiten Weltkrieg suchen: „Bohnenstange“ von Kantemir Balagow spielt in einer traumatisierten Stadt. Leningrad 1945.
Das kleinformatige Schwarzweißfoto entwickelt einen irritierenden Nachhall. Es ist in einer Ausstellung der Berliner Akademie der Künste mit Fotografien der Agentur Ostkreuz zu sehen. Man sieht Menschen zu einem Nachbau des Berliner Reichstags spazieren, auf dessen Kuppel die sowjetische Fahne weht. Aufgenommen wurde es in diesem Jahr im sogenannten Patriot-Park in der Nähe von Moskau. Welche Bilder verbinden die Besucher*innen mit dem historischen Modell, das an die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs erinnert? Welche Vergangenheit wird dort besichtigt? Welche Form der Geschichtspolitik wird hier betrieben?
Auf russischen Kinoleinwänden feiern finanziell üppig ausgestattete Filme den Großen Vaterländischen Krieg weiterhin als pathetische Erzählung und Heldenepos. Doch seit einigen Jahren betreibt eine jüngere Generation russischer Regisseure eine andere Form der Geschichtsschreibung und macht damit auf internationalen Festivals auf sich aufmerksam. Der zur Propaganda erstarrten Historie ihres Landes ringt sie neue Erzählungen und andere Sichtweisen ab.
Mit den unterschiedlichsten visuellen Strategien drücken die Filmemacher die Reset-Taste, versuchen den aufgeladenen Blick wieder in eine menschliche Perspektive zu bringen. Womöglich sind ihre Filme deshalb so radikal und verstörend, weil sie auf Augenhöhe von Soldatinnen und Soldaten erzählen und davon, was der Krieg mit und aus ihnen gemacht hat.
Einer dieser Regisseure ist der 29-jährige Kantemir Balagow, Schüler von Alexander Sokurow, einem der bedeutendsten Autorenfilmer der Gegenwart. Balagows zweite Regiearbeit „Bohnenstange“ spielt im herbstlichen Leningrad des Jahres 1945 gut anderthalb Jahre nach Ende der deutschen Belagerung.
Aus der Welt gerissen
Die Stadt und ihre Bewohner*innen scheinen noch immer benommen, erschüttert, aus der Welt gerissen, seltsam gedämpft ist die Stimmung auf den Straßen. Jeder scheint seines Weges zu gehen, doch wohin kann er führen im Nirgendwo des Traumas?
Im Kino: „Bohnenstange“. Regie: Kantemir Balagow. Mit Wiktoria Miroschnitschenko, Wassilissa Perelygina u. a. Russland 2019, 137 Min.
Zwei junge Soldatinnen, die zurückhaltende Ija (Wiktoria Miroschnitschenko) und die impulsive Mascha (Wassilissa Perelygina), sind gerade erst von der Front zurückgekehrt und teilen sich Zimmer und Bett in einer Kommunalka-Gemeinschaftswohnung. In den Flur mit den vielen Türen und in die chaotische, von Geklapper erfüllte Küche will der Alltag mit aller Macht zurückkehren, aber er trifft auf keine Gegenwart.
Die Zimmernachbarin, eine Näherin, bittet Mascha, ein grünes Kleid mit roten Applikationen für eine Kundin anzuprobieren. Plötzlich nimmt die junge Soldatin sich und ihre Körperlichkeit wieder anders wahr, ausgelassen beginnt sie, sich im Kreise zu drehen, bis sie irgendwann weinend zusammenbricht. Als sie wieder die Uniform trägt, baumeln die Orden scheinbar bedeutungslos an ihrer Brusttasche.
Schließlich findet Mascha mit Hilfe von Ija ebenfalls eine Anstellung im Krankenhaus. Die zwei Frauen kümmern sich um schwerverletzte Soldaten, und an diesem Ort scheinen nur die physischen und sichtbaren Verletzungen zu zählen. Doch wer fängt Ija und Mascha auf? Wohin mit dem Grauen der Front, mit Erfahrungen, die die beiden so kurz nach Kriegsende noch nicht fassen können, die vielleicht noch für längere Zeit, womöglich sogar für immer unfassbar bleiben?
Reportagen von Swetlana Alexijewitsch
Kantemir Balagow entwickelte seinen Film nach der Lektüre von „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, einem Buch der belarussischen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Anfang der achtziger Jahre suchte die Autorin Frauen auf, die im Zweiten Weltkrieg Sanitäterinnen, Flakgeschützführerinnen, Scharf- und MG-Schützinnen gewesen waren, um deren Erinnerungen sprechen zu lassen.
Die Erinnerung spricht in „Bohnenstange“ allein schon durch Ijas Erscheinung: Wegen ihrer irritierenden Größe und schlaksigen Gestalt wird sie von allen nur Bohnenstange genannt. Wenn sie im Krankenhaus mit den anderen Schwestern durch die Gänge eilt, wirkt sie wie ein Fremdkörper im Bild. Stets scheint es, als sei im Raum noch eine andere Geschichte präsent.
Manchmal verfällt Ija in eine Art Schockstarre, von der ihre Umgebung kaum je Notiz nimmt. Stattdessen gehen etwa die Frauen in der Waschküche des Krankenhauses ihrer Tätigkeit weiter nach und setzen ungerührt ihre Unterhaltungen fort. Doch die Kamera bleibt bei Ija, ein Schatten legt sich über das mädchenhafte Gesicht mit den blonden Wimpern. Man weiß nicht, welche Bilder Ija in Beschlag nehmen, erahnt aber deren Wucht und Schmerz.
Mascha, deren Sohn mitten im Kriegsgeschehen geboren wurde, hatte den kleinen Jungen in Ijas Obhut gegeben. Bei einem von Ijas Anfällen kommt es zu einem fatalen Unfall. Ija wird ihrer besten Freundin nach deren Rückkehr die wahren Hintergründe des Geschehens verschweigen, während Mascha von dieser eine Art „Schadensersatz“ verlangt.
Ein Kind als Schadensersatz
Sie soll statt ihrer ein Kind gebären, denn eine Kriegsverletzung hat sie unfruchtbar werden lassen. Nach und nach wird der Film zu einem Psychodrama über zwei Frauen, deren Schicksale untrennbar miteinander verknüpft sind. Der Schmerz zwingt sie zu Handlungen, die für sie selbst und die jeweils andere brutal und schrecklich sind, gleichzeitig verbindet diese Frauen auch Fürsorge, Zuneigung und Zärtlichkeit.
Mit diesem so seltsamen wie emotional extremen Beziehungsgeflecht erzählt Balagow auch von der seelischen Versehrtheit seiner Heimat, von einem auf unvorstellbare Weise verwundeten Land. Es ist die aufmerksame Kamera, es sind die präzise choreografierten und ausgeleuchteten Bilder von „Bohnenstange“, die dem Leid und dem Leiden einen Rahmen und einen Raum geben.
Das Zimmer der Frauen ist in warmen Farben gehalten, die sie wie ein Schutzmantel umgeben, erst so kann ihre unendliche Einsamkeit zum Vorschein kommen. Vor dem Wandteppich mit den bunten Mustern wirkt Ijas Gesicht noch blasser, noch kindlicher.
Vielleicht lässt sich von manchen Verletzungen, die mehr als nur körperlicher Natur sind, nur erzählen, wenn man sie so genau und behutsam in Szene setzt. Friedlich wirkt die Stimmung im großen Gemeinschaftsbad der Frauen, man teilt sich das heiße Wasser und gießt es sich gegenseitig über den Rücken, eher beiläufig nimmt die Kamera die rote Narbe am unteren Bauch von Mascha wahr.
Der Krieg als persönliches Erlebnis
Im Krankenhaus wiederum kontrastiert Balagow den verletzten männlichen Körper mit der Verletzlichkeit eines kleinen Jungen: Patienten imitieren Tiere, die der etwa Zweijährige erraten soll. Er wirkt überfordert, erstarrt, später nimmt der Film seine Perspektive ein, nun sehen wir ebenfalls die Krücken, Verbände und einen im Bett regungslos liegenden Mann.
Balagow verhandelt den Krieg als persönliches Erlebnis. Konsequent verharrt er in der Perspektive der Frauen und erfasst gerade dadurch das unfassbare Ausmaß und die allgegenwärtige Dimension. „Bohnenstange“ ist auch ein Film über Frauen, die versuchen, ihr Mensch- und Frausein wiederzuerlangen und zu behaupten. Mit seinen in sich ruhenden Bildern gibt er ihnen die dafür nötige Rückendeckung.
Im Kino: „Bohnenstange“. Regie: Kantemir Balagow. Mit Wiktoria Miroschnitschenko, Wassilissa Perelygina u. a., Russland 2019, 137 Min.
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