Zwei Jahre ohne Präsident: Tunesiens nationale Zerstrittenheit
Vor zwei Jahren forderten die Tunesier das Ende des Regimes Ben Ali. Jetzt rufen die einen nach einem Islamstaat, die anderen nach Freiheit und Arbeit.
TUNIS taz | Die Bilder ähneln sich: Zehntausende ziehen durch die Innenstadt von Tunis – wie damals am 14. 1. 2011. Aber anders als an jenem Freitag, an dem der langjährige Präsident Zine el-Abidine Ben Ali nach Generalstreik und Massendemonstrationen die Flucht ins Exil antrat – womit der Arabische Frühling eingeleitet wurde –, bieten die Tunesier heute kein Bild der Einheit.
Im Gegenteil: Auf der einen Seite versammelten sich die Anhänger der führenden Regierungspartei, der islamischen Ennahda, auf der anderen die weltlichen Kräfte. Und zwischendrin allerlei radikale Gruppen, von den fanatisch-religiösen Salafisten im Polizeikessel bis hin zur extremen Linken.
Dabei hallt heute wie damals der Ruf „Das Volk will …“ durch die Straßen. Doch vor zwei Jahren forderten die Menschen gemeinsam das Ende des Regimes – jetzt rufen die einen nach einem Staat, der den Islam zur Grundlage hat, und die anderen nach einer zivilen Republik, nach Freiheit, Würde und Arbeit.
17. 12. 2010: Der 26-jährigen Gemüsehändler Mohamed Bouazizi verbrennt sich aus Protest gegen Behördenwillkür selbst. In den Tagen darauf kommt es zu immer größeren Protesten. Dabei werden etwa 338 Menschen getötet und 2.174 verletzt.
14. 1. 2011: Nach einem Monat der Massenproteste verlässt Präsident Zine el-Abidine Ben Ali fluchtartig das Land; eine Übergangsregierung wird gebildet.
23. 10. 2011: Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung, die meisten Stimmen erhält die islamistische Partei Ennahda.
11. 12. 2011: Verabschiedung einer Übergangsverfassung.
23. 6. 2013: Parlamentswahlen und erste Runde der Präsidentschaftswahl geplant.
7. 7. 2013: Voraussichtlich zweite Runde. (bs, rr)
Nur eine Parole führen sie alle nach wie vor im Munde: „Dégage!“ – „Verdufte!“ Doch das richtet sich heute nicht gegen einen Diktator, sondern gegen den jeweiligen politischen Gegner. „Wir fürchten eine neue Diktatur, die schlimmer werden könnte als die alte“, erklärt Habib Kazdaghli.
Salafisten besetzen Lehrstuhl
Der Geschichtsprofessor spricht von einer mittelalterlichen Politik, die „sich in alle Bereiche des Lebens einmischen will“. Der Dekan der Fakultät für Literatur und Geisteswissenschaften an der hauptstädtischen Universität muss es wissen: Wochenlang war sein Lehrstuhl von Salafisten besetzt.
Die Islamisten forderten, dass Frauen mit Ganzkörperverschleierung studieren, Studenten und Lehrkräfte nach Geschlecht getrennt Unterricht abhalten und ein Gebetsraum eingerichtet wird. Kazdaghli und seine Lehrkräfte weigerte sich – doch obwohl die Salafisten sie dafür mit dem Tod bedrohten, schritt die Polizei lange nicht ein. „Und als sie endlich räumte, verhaftete sie niemanden.“
Stattdessen muss nun Kazdaghli vor den Richter. Er soll Studentinnen geschlagen haben. „Das ist völlig aus der Luft gegriffen“, sagt er und beschuldigt die Ennahda, die Salafisten für ihre Ziele zu nutzen. „Die Regierung führt einen doppelten Diskurs, nach außen geben sie sich gemäßigt, nach innen wollen sie die religiöse Republik.“
Trotzdem ist Kazdaghli optimistisch. „Letztendlich haben wir die Universität verteidigt“, sagt der Dekan, der längst zum Symbol für die weltliche, moderne Zivilgesellschaft geworden ist. Er bezeichnet den Kampf um seine Fakultät als „eine Art Stalingrad für den Islamismus“.
Das modernste Land der arabischen Welt
Auch Radhia Belhaj Zekri spricht von „Widerstand“, um Tunesien als „modernstes Land in der arabischen Welt zu wahren“. Ende der 1970er Jahre gründete sie die ersten unabhängigen Frauenorganisationen mit. „Die Ennahda-Regierung versucht, alle Errungenschaften zunichte zu machen“, schimpft die Lehrerin. „Doch bisher haben wir uns erfolgreich gewehrt.“
So musste das Übergangsparlament nach Protesten das islamische Recht ebenso aus dem Verfassungsentwurf streichen wie den Artikel, nachdem Männer und Frauen nicht gleich sind, sondern sich ergänzen. „Es bleibt viel zu tun“, mahnt Belhaj Zekri. In der Verfassung würden die Menschenrechte nicht explizit anerkannt, einige Formulierungen seien unklar, etwa der Satz, der Staat sei „den noblen Zielen des Islam“ verpflichtet.
Das wichtigste Ziel sei es nun, diejenigen, die für eine „zivile Republik“ eintreten, zu einen. Zekri ist sich sicher: „Wenn es bei den nächsten Wahlen nur zwei, drei starke Parteienbündnisse gibt, haben die Islamisten keine Chance.“ Die Wahl ist für Ende Juni vorgesehen, auch wenn viele nicht daran glauben, dass das neue Grundgesetz bis dahin fertiggestellt werden kann.
Doch der säkulare Einigungsprozess ist in vollem Gange. Das Linke hat sich zur „Front Populaire“ zusammengefunden, das sozialdemokratische Lager zur Republikanischen Partei, mit „Nidaa Tounes“ entstand um Exübergangspremier Béji Caïd Essebsi eine neue starke Kraft.
Religiöse bremsen
Mustapha Ben Ahmed ist einer der Gründer dieser Zentrumspartei. Eigentlich ist der Veteran der Gewerkschaft UGTT ein Linker. „Aber es braucht eine solche Partei, um die Religiösen zu bremsen“, begründet Ben Ahmed, warum viele GewerkschaftskollegInnen einer Organisation beigetreten sind, die auch Technokraten des alten Regimes in ihren Reihen hat. Seine Funktion dort sieht er im Kontakt mit den Menschen in den armen Vorstädten und auf dem Land.
Auch die Islamisten wissen, dass der Kampf um den neuen Staat außerhalb der urbanen Zentren entschieden wird. Die Salafisten und der Ennahda nahestehende Milizen der Liga zum Schutz der Revolution greifen immer wieder Lokale von UGTT und Nidaa Tounes an. In Tataouine im Süden des Landes wurde sogar ein Parteimitglied getötet.
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