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Zwangstindern mit den WahlplakatenVerkehrswende? Wisch und weg!

Beim Radfahren schreien einem die Bilder der Kan­di­dierenden vom Straßenrand geradezu entgegen. Mit prima Mobilitätskonzepten werben sie nie.

Zieht beim Radfahren schnell vorbei, aber wirbt nur mit leeren Phrasen: Plakat von Olaf Scholz Foto: Sven Hoppe/dpa

R adfahren hat derzeit was von Zwangs-Tindern. Alle paar Meter grinst mir irgendein Gesicht entgegen. Lauter Leute, in deren Profil ich passe, seit ich vor ein paar Wochen die Wahlbenachrichtigung hinter den Magneten an meinem Kühlschrank geklemmt habe. Ich finde die Partnervorschläge dieses Mal besonders aufdringlich, weil mir selbst eigentlich gerade nach Beziehungspause ist.

So was in Richtung freundschaftliches Auseinanderziehen für ein paar Monate, Nachdenken, was schiefgelaufen ist und Überlegen, wie man das ab jetzt besser hinkriegt. Oder ob man sich lieber trennt. Bei uns muss ja zum Glück niemand verpartnert sein, alleine leben ist auch okay.

Aber Wählen ist gefühlte Pflicht. Wenn ich derzeit durch die Stadt radele, versuche ich deshalb, die Laternenpfahl-Fotos mit möglichst liebevollen Augen zu betrachten. Irgendwen werde ich schließlich am 23. Februar ankreuzen müssen. Und die Gesichterkoalition mit den meisten Matches wird mich, wird uns dann regieren. Hoffentlich machen sie das für die Mehrheit gut.

Die Mehrheit der Deutschen besitzt zum Beispiel ein Auto und will ungestört herumfahren. Deshalb braucht die rad- oder ÖPNV-fahrende Minderheit schnell gute Fahrradwege und zuverlässige Bahnen. Sonst kommt sie noch auf die Idee, aufs Auto umzusteigen, und die Straßen werden noch voller! Am besten wären so gute Radwege und Züge, dass viele Menschen ihre PKW abschaffen – und damit Platz und Freiheit für entschlossene Autofahrer schaffen.

Wende wird gemacht

Leider erzählt meine persönliche Wahlprognosekugel nichts in Richtung einer so pragmatischen Verkehrswende. Uns bleiben nur gezielte Einzelaktionen. Von denen haben mir viele taz-Lesende nach der Dezember-Kolumne geschrieben: Ich las von Schulprojektwochen, in denen nicht nur Rotlicht- und Geschwindigkeitsverstöße gezählt wurden, sondern sich die Schüler zur Demo auf der anschließend beruhigten Hauptverkehrskreuzung trafen.

Bekam Post von einem Vater, der eigentlich vor der Schule seiner Kinder einen Zebrastreifen über die Kreisstraße wollte – und nach dessen Ablehnung eine Art Toreinfahrt für den Ort erfand. Die gibt es in keiner StVO, dafür aber inzwischen in der Realität vieler Schleswig-Holsteinischer Ortschaften.

Hartnäckigkeit funktioniert

Eine Mutter änderte via Landtagsabgeordneten die Vorfahrtsregeln an der Schulkreuzung ihrer Tochter. Ein Vater drehte YouTube-Videos mit Kindern, in denen diese Gefahrenstellen mit dem Fahrrad meistern. Ein anderer arbeitete sich in Behörden so hartnäckig empor, bis das aufgesetzt-blockierende Parken auf dem Gehweg Richtung Schule verboten wurde. Und ein Elternpaar nervten gängige Auto-Spielteppiche so, dass sie Spielwiesen samt schiebbaren Fahrrädern fürs Kinderzimmer erfanden.

Kinder ziehen also. Vielleicht könnten wir alle im März unsere neu gewählten Abgeordneten per Mail begrüßen und mitteilen, dass Kinder tot zu fahren schlecht fürs Image ist? Und dass Politik solche Unfälle auch jenseits vom Einzelkreuzungskampf verhindern könnte? Wer weiß: Vielleicht tut sich ja doch was!

Ich freue mich jedenfalls auf die Wahl: Zwei Wochen später wird auch das letzte Plakat abgenommen sein.

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Kerstin Finkelstein
Dr. phil, Expertin für Verkehrspolitik und Migration. Studium in Wien, Hamburg und Potsdam. Volontariat beim „Semanario Israelita“ in Buenos Aires. Lebt in Berlin. Fährt Fahrrad. Bücher u.a. „So geht Straße“ (Kinder-Sachbuch, 2024), „Moderne Muslimas. Kindheit – Karriere - Klischees“ (2023), „Black Heroes. Schwarz – Deutsch - Erfolgreich“ (2021), „Straßenkampf. Warum wir eine neue Fahrradpolitik brauchen“ (2020), „Fahr Rad!“ (2017).
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9 Kommentare

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  • Wir haben bei SPD und Grünen versucht dass die sich in unserem Hamburger Stadtteil dafür einsetzen das im Umfeld der Grundschule geltendes Recht durchgesetzt wird in dem Sinne das die Leute nicht einfach mit dem Auto auf den Rad bzw Gehweg drauf rasen oder über Durchfahrt verboten Schilder fahren. Beide Parteien sehen das als Themen an von denen man besser die Finger lässt weil sie angeblich nicht populär sind und sie nur noch mehr in die autofeindliche Ecke gestellt werden. So viel dazu.

  • Sorry, aber das ist eine Bundestagswahl.

    Ich würde keine Partei wählen, die denkt, sie macht Landespolitik.

    Wir haben beim 9-Euro-Ticket gesehen, wie schwierig es für Wissing war, da den Fuß reinzukriegen.

    Die ÖPNV-Unternehmen waren weitgehend dagegen.

    Eine Bundesregierung sollte sich zunächst mal um Bundesthemen kümmern.

    Das schaffen die Regierungen schon nicht in Gänze.

    Ja, bei der Verkehrswende versagen die Länder und Kommunen auf breiter Linie.

    Auch die Grünen-Politiker.

    Deshalb soll die Bundesregierung ihren Job erstmal schaffen.

    Wir haben gerade eine Wahl, weil eine Bundesregierung versagt hat.

    Die nächste wird bestimmt nicht erfolgreicher, wenn sie noch Aufgaben aus anderen Kompetenzbereichen dazu bekommt.

    Übrigens töten auch ÖPNV-Busse und Straßenbahnen Kinder und Erwachsene, um es mal so provokant wie im Artikel zu formulieren.

    • Kerstin Finkelstein , Autorin des Artikels,
      @rero:

      Bundespolitik bestimmt Verkehrspolitik erheblich. Etwa durch die StVO und StVG. Das bedeutet z. B.: Die Bundespolitik bestimmt, ob innerorts grundsätzlich 50km/h gefahren werden dürfen oder grundsätzlich 30km/h. Derzeit kann Landes- und Kommunalpolitik nur über Tempo 30 Zonen bestimmen, bzw. versuchen, diese einzuführen. Mehr als 1.100 Kommunen fordern aktuell, Tempo 30 innerorts als Regelgeschwindigkeit einzuführen. Dürfen sie aber nach wie vor nur mit Begründung an ausgesuchten Stellen.



      Anderes Beispiel: Bundeshaushalt. Die Vorgängerregierungen haben an der Infrastruktur der Bahn gespart. Mehr als die Hälfte der rund 3500 Stellwerke sind erneuerungsbedürftig, 16 000 Weichen müssten ausgetauscht, fast ein Fünftel der Gleise ersetzt werden. Vielerorts werden Züge noch händisch gekuppelt, auch Stellwerke funktionieren stellenweise wie vor hundert Jahren. Die jetzige Regierung hat die Investitionen in die Bahn erhöht, also zumindest die Richtung mal geändert. Und auch das 9Euro-Ticket hatte zumindest einen Effekt in der Debatte: Es machte klar, wieviele Menschen sich für die Bahn begeistern lassen könnten.



      Bundespolitik bestimmt Verkehrspolitik erheblich.

      • @Kerstin Finkelstein:

        Und dann ist auch schon weitgehend Schluss mit den Einwirkungsmöglichkeiten einer Bundesregierung.

        "Erheblich" würde ich nur die Verantwortlichkeit für die Infrastruktur der Bahn nennen.

        Die Rahmenbedingungen für die Frage, ob 30 oder 50 km/h, machen keine Verkehrswende aus.

        Weniger Kfz sollten das Ziel sein.

        Gerade weil das 9-Euro-Ticket bewies, wieviel Potential da ist, ist es traurig, wie wenig auf Landesebene passiert.

        Nun auf den Bund als Retter zu warten, wird nicht helfen.

  • Traurig, aber wahr. Beim Thema Verkehrswende sind auch die Grünen ein Totalausfall. Deutschland wird wohl ewig eine Autofahrer-Nation bleiben, da es anscheinend keine politische Kraft im Land gibt, die daran wirklich etwas ändern möchte. Den Bürgern bleibt höchstens, mit Initiativen auf lokaler Ebene ein wenig Schadensbegrenzung zu betreiben, aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

    • @Karmesinrot:

      Ich glaube, am Wollen liegt es nicht.

      Es fehlen nur einfach die Ideen, die die Bürger überzeugen und gleichzeitig finanzierbar sind.

      Kein einfaches Terrain, weil divergierende Interessen eine Rolle spielen.

      Herzliche Grüße aus Berlin, das als Experimentierfeld fungierte. Es kam aber wenig bei raus.

      • @rero:

        So unmöglich kann das ja nicht sein, wenn der politische Wille wirklich da ist. In London hat das schließlich auch geklappt, und dort hätte man das früher auch nicht für möglich gehalten.

        • @Karmesinrot:

          In London kenne ich mich nicht aus.

          Politischer Wille will vor allem wiedergewählt werden und deshalb die Wähler überzeugen.

          Die tollsten Ideen nützen nichts, wenn die Wähler sie doof finden.

          Umgekehrt wird der autofreundlichste Verkehrsminister jeden Ausbau des ÖPNV und des Radwegenetzes vorantreiben, wenn ihm die Mehrheit dafür zujubelt.

          Straßen sind nur begrenzt breit.

          Die Konflikte auch mit eingedämmtem Autoverkehr zeichnen sich bereits ab.

          Ich erlebe es persönlich täglich.

  • Nebenbei: Wer übrigens von den inflationären Plakatklebern auf die "Idee" kommt, die auch über den ohnehin schmalen Rad-Fuß-Weg in Radhöhe quer zu setzen, darf sich nicht wundern, wenn das Plakat sachte um 90 ° gedreht wird und dadurch eben weniger sichtbar.

    Wenn es gerade um Todesopfer so laut geht, sollten die täglichen Verkehrstoten durch den Autoverkehr geradezu herausgebrüllt werden.