Zwangsrückführung ohne gültige Papiere: Die Zukunft der Abschiebungen
Beliebige Papiere nach Bedarf: Immer öfter schiebt die EU Ausreiseverpflichtete aus Afrika in ein anderes als ihr Herkunftsland ab.
Er geriet in Panik, „Ich war außer mir“, sagt er über den Tag. Er solle sich beruhigen, sagen die Polizisten. Die Sachen packen, die er am dringendsten brauche. „Ich kann nicht nach Nigeria. Ich komme aus Sierra Leone,“ sagte Koroma. Sie hätten ihre Anweisungen, sagten die Beamten. Koroma muss alles zurücklassen, was nicht in seinen Rucksack passt, die Polizisten bringen ihn zur Ausländerbehörde. Drei Stunden wird er dort festgehalten, seine deutschen Papiere beschlagnahmt. Sein Anwalt geht nicht ans Telefon.
Koroma sieht vom Rücksitz eines Streifenwagens, wie die Sonne aufgeht. Um neun Uhr kommt er am Frankfurter Großflughafen an. Als sein Anwalt schließlich das Telefon abhebt, sagt er ihm, dass die Botschaft von Nigeria für Koroma, der keinen Pass besitzt, ein Reisepapier ausgestellt hatte.
Diese Geschichte handelt von den Mitteln, zu denen Behörden bisweilen greifen. Sie handelt von zwei Männern, bei denen sie nicht hinnehmen wollten, dass sie sie nicht aus dem Land entfernen konnten. Sie handelt von der Vergangenheit und von der Zukunft der Abschiebung.
Aus dem Bürgerkrieg gekommen
Koroma war einer von 33.003 Menschen, die das Bundesinnenministerium 2012 bundesweit als „unmittelbar ausreisepflichtig“ registriert hatte. Doch nur rund jeder Sechste von ihnen konnte in jenen Jahren tatsächlich abgeschoben werden. Das beklagte die „AG Rück“, eine mit Abschiebungen befasste Arbeitsgruppe von Bund und Ländern. Sie listete 25 Gründe auf, warum Abschiebungen so schwierig waren. Auf Platz eins der Liste: „Pass(ersatzpapier)beschaffung“. Auf Platz zwei: „Kooperationsverhalten der Herkunftsstaaten“. So, wie bei Joseph Koroma.
Im Mai 2006 erreicht er Deutschland, 42 Jahre ist er da alt. Von 1991 bis 2002 herrschte in Sierra Leone Bürgerkrieg. Bis zu 300.000 Menschen sollen getötet worden sein, 2,6 Millionen vertrieben. Doch als Koroma in Deutschland ankommt, ist der Krieg vorbei. Nach nur fünf Monaten wird sein Asylantrag abgelehnt, 2008 wird die Entscheidung rechtskräftig. Das Regierungspräsidium Karlsruhe, Abteilung acht – Ausländer – weist ihn aus. Aber Joseph Koroma hat keinen Pass.
2006 wurde bekannt, dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sich wütend bei mehreren Diplomaten beklagt hatte, weil 29 Botschaften, die Steinmeiers Ministerium auf einer geheimen „Problemstaatenliste“ führte, bei Abschiebungen Schwierigkeiten machten. Auf dieser Liste: Sierra Leone.
Integriert
Joseph Koromas Leidenschaft ist Tischtennis. Als kleiner Junge fing er damit an, als junger Mann war er ein „Star“, sagt Koroma, der heute im erste Stock eines Hauses in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone lebt. Wände und Boden sind unverputzt, staubig, das Dach mit Hölzern abgestützt, das Zimmer dunkel, auf dem Boden steht ein großer Topf auf glimmenden Holzscheiten.
Vor „dramatischer“ Migration aus Afrika warnt die deutsche Regierung, von einem „Marshallplan“ ist die Rede. Doch die Milliardensummen, die Europa in Afrika ausgeben will, dienen nicht nur dem Kampf gegen Armut. Erklärtes Ziel der neuen EU-Afrikapolitik ist es, Flüchtlinge und Migranten schon tief im Innern des Kontintents aufzuhalten. Die taz berichtet seit Mitte November in einem Rechercheschwerpunkt darüber, zu finden unter taz.de/migcontrol.
Die Recherche wurde gefördert von Fleiß und Mut e. V. (cja)
In Sierra Leones aufstrebender Tischtennis-Szene, später wurde er gar Nationaltrainer. In Kornwestheim suchte Koroma im Internet nach einem Club und fand den „SV Salamander Kornwestheim 1894 e.V.“ . Das habe „sein Leben stärker verändert, als ich auszudrücken vermag“, sagt Koroma. Er ist ein hochgewachsener Mann mit Glatze, ruhige Stimme, sein Englisch stark westafrikanisch gefärbt.
Die Stuttgarter Zeitung schreibt Artikel darüber, wie er seine Mannschaft gegen Spieler aus Steinheim, Kleinsachsenheim und Bietigheim-Bissingen in Führung brachte. „Sie waren meine besten Freunde, es war mir eine Ehre, dass ich mich mit ihnen messen durfte.“ Koroma holt ein gerahmtes Foto seiner Mannschaft, er zeigt es, betrachtet es selbst, legt es in seinen Schoß, bevor er weiterspricht. „Wenn du Asyl suchst, erlauben sie dir nicht, zu arbeiten, aber der Sponsor dieses Clubs“, die Salamander-Schuhfabrik, „ging sogar zur Ausländerbehörde, um zu fragen, ob er mich beschäftigen dürfte.“ Die Behörde lehnte allerdings ab. Der Club bezahlte die Schulgebühren für Koromas Sohn in Freetown. „Wenn ich ein Problem hatte, halfen sie mir ohne jedes Zögern.“ Sechs Saisons lang spielte Josef für den Verein.
Bockige Botschaften
Das Regierungspräsidium Karlsruhe lässt ihn 2011 bei der Botschaft von Sierra Leone vorführen. Einen Pass wollte er nicht und er bekam ihn auch nicht. Die AG Rück hat eine Liste gemacht, warum Abschiebungen so oft an den Botschaften scheitern. Manche geben die Pässe nur her, wenn der Betreffende einwilligt. Koromo wollte nicht. Sie würden ihre Bürger vor den deutschen Behörde schützen, schreibt die AG Rück, dazu komme Korruption, Willkür, ein fehlendes „politisches Interesse an Rückführungen“, manche Länder wollten Deutschland gar Zugeständnisse oder Geld abpressen.
Um die bockigen Botschaften zu umgehen, war die Bundespolizei in den Jahren zuvor mehrfach auf die Idee gekommen, Beamte aus westafrikanischen Staaten extra einfliegen zu lassen. 2008 etwa kamen solche Beamte aus Freetown nach Hamburg. Die Süddeutsche Zeitung fand später heraus, dass diese 250 Euro pro Abschiebepapier, eine „Tagespauschale“ von 200 Euro plus Spesen bekamen; die Bundespolizei lud sie zum HSV-Spiel ein und ließ sogar für 63,50 Euro bei einem Schlüsseldienst den sierra-leonischen Dienststempel der Beamten anfertigen, die ohne das Hoheitszeichen angereist waren.
Anders als die Botschaft stellte diese „Delegation“ zwei Dritteln aller abgelehnten Asylbewerber, die die Bundespolizei ihnen vorführte, ein Abschiebepapier aus. Für Ausländerbehörde und Bundespolizei ein Bombenerfolg, auf einen Schlag konnten sie dutzende Altfälle abschieben. In den Medien und vor Gericht machte sich die Sache hingegen gar nicht gut. Es roch zu sehr nach Korruption. Nach einer Weile stellte die Bundespolizei die Praxis ein.
Afrika ist groß
Auch das Regierungspräsidium in Karlsruhe konnte den „unmittelbar ausreisepflichtigen“ Joseph Koroma nicht abschieben, weil es keinen Pass für ihn hatte. Aber die Beamten lassen sich nicht entmutigen. Koroma kommt aus Afrika. Und das ist schließlich groß. Es besteht nicht nur aus Sierra Leone.
Am Morgen des 10. April 2012 holen sie Joseph Koroma in seiner Wohnung ab und bringen ihn nach Karlsruhe. Dort wartet eine so genannte Delegation der nigerianischen Botschaft in Berlin. Sie soll prüfen, ob es nicht möglich sei, dass Joseph Koroma aus Nigeria stamme. Koroma sagte, er werde klagen, wenn er zum Nigerianer gemacht würde. Die Botschaftsleute schickte ihn und die Beamten weg. Die Ausländerbehörde aber ließ sich nicht beirren. Am 25. Juni 2013 holte sie Koroma erneut in seiner Wohnung ab, brachte ihn wieder nach Karlsruhe. Dieselbe „Delegation“ der Botschaft aus Berlin war da. Dieses Mal befanden sie: Koroma sei Nigerianer.
So sitzt er fünf Monate später bei der Bundespolizei am Flughafen Frankfurt/Main und wartet auf den Einstieg ins Abschiebeflugzeug. Sein Telefon darf er behalten. „Mein Anwalt sagte, er würde jetzt Briefe an das Gericht und die Ausländerbehörde schreiben“, sagt Koroma. „Das war das letzte Mal, dass wir sprachen.“ Um 11:10 Uhr startete der Lufthansa Flug LH 568 nach Lagos/Nigeria. An Bord: Joseph Koroma.
Reisegeld von Freunden in Deutschland
In Lagos bringen Polizisten ihn zu Beamten der Einwanderungsbehörde NIS. Koroma sagt ihnen, dass er kein Nigerianer sei, niemanden im Land kannte und nicht wisse, wohin. Bald darauf meldet sich bei den Beamten ein Mann aus Togo, der in einem Vorort von Lagos lebt. Er wolle Koroma abholen. Es ist der Bruder eines Freundes von Koroma aus Kornwestheim. Dort hatte sich im Laufe des Tages herumgesprochen, was geschehen war. Der Freund hatte seinen Bruder gebeten, Koroma bei sich aufzunehmen.
Einen Monat bleibt Koroma bei dem Mann, die Wohnung verlässt er kaum. Die meiste Zeit sitzt er vor dem Computer, schreibt Mails, telefoniert, mit seiner Familie in Sierra Leone, mit seinen Tischtennis-Kumpeln in Kornwestheim. Nach Freetown sind es von Lagos 2.500 Kilometer, der Bus fährt durch das Gebiet von Rebellenarmeen. Der Flug aber kostet mehrere hundert Euro und Koroma hat nichts. Einen Monat später kommt für ihn Geld bei Western Union an. Seine Freunde in Kornwestheim hatten es gesammelt.
„Joseph ist kein nigerianischer Mann oder ein böser Mann. Aber wir haben uns sehr geschämt, was mit ihm geschehen ist“, sagte Mariama, seine Frau. Als Koroma im November 2013 in Freetown aus dem Flugzeug steigt, ist er seinen Freunden in Deutschland dankbar, dass sie ihn zu seiner Familie kommen ließen. Aber es war nicht mehr das Land, das er sieben Jahre zuvor verlassen hatte. Damals arbeitete Joseph in einem kleinen Bergwerk im Osten des Landes. Was er sparen konnte, investierte die Familie in seine Reise nach Europa. Nun suchte er nach fester Arbeit, doch er fand keine. Bald darauf bricht die Ebola-Seuche aus. Von der Epidemie bleibt seine Familie verschont, von der anschließenden Wirtschaftskrise nicht. Das Geld, das seine Freunde gesammelt hatten, reicht nicht lang für die kleine Wohnung.
Tischtennis und Lebenshilfe
Das Verhältnis zur Verwandtschaft habe sich „völlig verändert“, nachdem er zurückgekehrt war, sagt Mariama. „Wenn du draußen in der Welt warst und abgeschoben wirst, dann ist das eine Schande. Sie verachten dich, statt dir eine helfende Hand zu reichen.“ Die Leute würden sagen: „‚Dieser Mann hat sich keine Mühe gegeben, als er in Europa war.‘ Aber sie verstehen nicht, wie die Dinge dort funktionieren.“
Koromo ist arbeitslos, der Familie droht die Räumung Ihr Sohn Emmanuel ist 17 Jahre alt. „Es ist ein Geschenk Gottes, dass er klug genug ist, um im nächsten Jahr an die Universität zu gehen“, sagt Mariama. Aber daraus wird wohl nichts. Die Aufnahmeprüfung kostet fast 200 Dollar, in Sierra Leone liegt Durchschnittslohn bei unter zwei Dollar pro Tag. Es gibt niemanden, der den Koromas helfen würde.
So verbringt der Sohn die Zeit genauso wie sein Vater: Mit Tischtennis. Josef verdient sich etwas Geld damit, Jugend- und Nationalmannschaft zu trainieren. Bald will er mit seinem Sohn ein Trainingslager für Jugendliche veranstalten. Sie sollen Möglichkeiten haben, die er selbst nicht hatte. „Wenn meine Freunde in Deutschland mich etwas lehrten, dann dass man den Menschen immer helfen soll, wenn man kann“, sagte Joseph. „So funktioniert die Welt besser.“
Geld für Abschiebepapiere
Ein Mann, den Deutschland in ein Land abschiebt, aus dem er nicht kommt. Joseph Koroma ist nicht der einzige Fall dieser Art. Aber es ist einer der wenigen, die dokumentiert sind. Dafür sorgte der aus Nigeria stammende Aktivist Rex Osa aus Stuttgart. Er reiste Koroma kurz nach dessen Abschiebung bis nach Sierra Leone hinterher, sammelte seine Aussage und die ähnlicher Fälle, in denen abgeschobene Flüchtlinge plötzlich zu Nigerianern wurden.
Die Botschaft von Nigeria in Berlin hatte offizielle Gebühren festgelegt: 250 Euro sollten Ausländerbehörden pro Anhörung seit 2005 bezahlen. Doch es stand der Verdacht im Raum, dass mit den Abschiebepapieren ein Geschäft gemacht wird. Die Kritik wuchs, auch hier roch es nach Korruption. 2011 schafft die Botschaft die Gebühren deshalb offiziell ab. Der Aktivist Osa aber ist sicher: Die Botschaftsmitarbeiter haben die Hand aufgehalten, und zwar im Fall von Koroma doppelt. Deswegen hätten sie sich auch zweimal nach Karlsruhe einladen lassen. „Das ist ein absolut korruptes System. Die machen ein Geschäft mit den Abschiebungen.“
2015 fragte der Berliner Journalist Daniel Mützel bei der für die Abschiebung von Koromoa zuständigen Bundespolizei nach, ob das wahr sein kann. Ob die Bundespolizei „Anreize“ geboten habe, damit Koroma und andere zum Nigerianer gemacht wurden, um sie abschieben zu können. Die Antwort der Bundespolizeidirektion in Potsdam: „Seitens der Bundespolizei werden keine Anreize geboten. Hinsichtlich der Motivation der Botschaft kann von hier keine Aussage getroffen werden.“
Eine Tortur
Hat Koroma nun die Wahrheit gesagt? Stammt er tatsächlich aus Sierra Leone? Es sieht so aus. Die Behörden in Freetown jedenfalls stellen ihm am 6. November 2013, kurz nach seiner Ankunft, einen Pass mit der Nummer E0143344 aus, er liegt der taz vor. Darin steht, dass er am 7. Dezember 1964 in Freetown geboren wurde, wie er es bei den Behörden in Deutschland angab. Als der Aktivist Osa ihn 2014 in Freetown besuchte, trifft er ihn bei seiner Familie an, ebenso wie die taz im November 2016.
Dass Koroma und eine Reihe weiterer Abgeschobener in Nigeria landeten, dazu ist es gekommen, weil viele Konsulate nicht mit den deutschen Ausländerbehörden zusammenarbeiten und ein anderes dafür schon. Warum auch immer. Es ist eine zweifelhafte Vorgehensweise, teuer, mühsam, langwierig. Für den Betroffenen eine Tortur.
Das war die Vergangenheit. Denn wie es aussieht, sind die Ausländerbehörden auf solche Zusammenarbeit bald nicht mehr angewiesen. Die Zukunft der Abschiebung könnte eine andere sein.
Sie könnten es bald alle so machen wie Arne Sahlstedt, Inspektor bei der Polizei in Gävle, Mittelschweden, 70.000 Einwohner, zwei Autostunden nördlich von Stockholm. Auch Sahlstedt musste einen Mann abschieben, der keinen Pass hatte. Sein Name ist Fulani Camara, 29 Jahre alt, aus Mali, Waise.
Zugewiesene Nationalität
Die Ausländerbehörde von Gävle hatte Camara ausgewiesen, nachdem dessen Asylantrag abgelehnt worden war. So wie es in Schwaben mit Joseph Koroma geschah. Auch Camara reiste nicht aus, auch die Botschaft von Mali in Stockholm stellte keinen Pass für ihn aus. Warum nicht, das will die Polizei in Gävle auf taz-Anfrage nicht sagen. „Datenschutz“, heißt es. Wahrscheinlich steht auch Mali auf der „Problemstaatenliste“.
Was Menschen wie Sahlstedt in solchen Fällen tun sollen, dafür gibt es seit zwei Jahren in Schweden einen Erlass. Er trägt die Bezeichnung RPSFS 2014:8 FAP 638-1 und darin steht, dass Sahlstedt auch selbst ein Reisepapier ausstellen kann, wenn die Botschaft das nicht tut. Es ist ein einfaches DIN-A4-Blatt, oben ist die Flagge der EU gedruckt, Sahlstedt muss nur den Namen, die Körpergröße, die schwedische Registernummer, das Geburtsdatum und die „vermutete Nationalität“ eintragen. Im Fall von Camara trug Sahlstedt „Mali“ sein. Am 24. Oktober diesen Jahres stempelte und unterschrieb Sahlstedt das Papier. Drei Tage später saß Fulani Camara im Flugzeug.
An diesem Tag klingelte in Malis Hauptstadt Bamako das Handy von Ousmane Diarra. Er ist Aktivist der Malischen Vereinigung der Abgeschobenen (AME). Seit Jahren fährt er zum Flughafen, wenn um 19:55 Uhr der einzige Direktflug aus Paris ankommt und darin Menschen sitzen, die am Morgen des Tages irgendwo in Europa von der Polizei aus ihren Wohnungen geholt wurden, weil sie ihr Bleiberecht verloren hatten. Die meisten wissen nicht wohin, die wenigsten haben Geld, und so sind die Leute am Flughafen froh, wenn die AME sich kümmert. Deshalb rufen sie ihn an, wenn wieder Abgeschobene aus dem Flugzeug steigen.
Diarra wartet dann vor dem Büro der Flughafenpolizei, dann nimmt er sie mit in das Büro der AME. Ein Platz zum Schlafen für die erste Nacht, ein Essen, viel mehr kann Diarra den Leuten nicht bieten. Jedes Mal aber befragt er sie über die Umstände der Abschiebung. Tausende solcher Geschichten dürfte Diarra mittlerweile gehört haben. Aber Camaras Fall war besonders.
Denn das Blatt Papier mit der EU-Fahne, dass der schwedische Polizeiinspektor Sahlstedt unterschrieben hatte – offiziell erkennen malische Behörden es gar nicht an. Schon 1994 hatte die EU eine „Empfehlung“ für die Verwendung eines solchen Abschiebepapiers ausgesprochen. Das Problem der unkooperativen Botschaften ist alt. Doch bislang weigerten sich – mit Ausnahme des Inselstaates Kap Verden – sämtliche Staaten Afrikas, offiziell diese Papiere zu akzeptieren. Zum einen würde dies innenpolitisch wie Verrat am eigenen Volk aufgefasst. Zum anderen verlieren die Botschaften so, je nach Lesart, die Möglichkeit zu prüfen, ob jemand tatsächlich Bürger des jeweiligen Landes ist – oder auch die Hand aufzuhalten, um mit den Abschiebungen etwas nebenher zu verdienen. Inoffiziell aber gab es in der Vergangenheit Einzelfälle, in denen diese „EU Laissez Passers“ zur Anwendung kamen.
Migration als Gewinn
Diarra bat Fulani Camara, einige Tage zu bleiben. Am 5. November diesen Jahres feierte die AME ihren 20. Geburtstag. Sie hatte für diesen Tag das Nationalmuseum von Bamako, zwischen dem Fußballstadion und dem Rathaus gemietet, es war für sie ein wichtiger Tag. Mali ist ein Land dessen Bewohner traditionell zum Arbeiten anderswo hin gehen, die meisten in andere Staaten Westafrikas, manche nach Europa. Seit langem hat das Land deshalb ein eigenes Ministerium für die Malier im Ausland. Und seit es das gibt, steht es unter Druck: Vor allem Frankreich will viele Malier abschieben. Die Regierung hält davon nicht viel.
In einem internen Strategiepapier hat die EU-Kommission im Januar 2016 die Lage so beschrieben: Die Ansichten zur Migration zwischen der EU und Mali „fallen nicht zusammen“. Migration gelte dort „kulturell als Erfolgsmodell“, die „wirtschaftliche Bedeutung von Überweisungen ist berücksichtigen“. Malis Regierung betrachte sogar die irreguläre Migration als „Ressource“. Und sei deshalb gegen ein Rückübernahmeabkommen mit der EU.
Zum ihrem Geburtstag hatte die AME den hohen Beamten Broulaye Keïta eingeladen, er trägt den Titel „Berater des Ministers“. Sie wollte mit ihm darüber sprechen, wie die Regierung mit dem wachsenden Druck aus Europa umgehe. Sie wollten wissen, wie sie zu den Abschiebeabkommen stehe, für die die EU Staaten wie Mali gerade Hunderte Millionen Euro anbietet. Und in denen stehen soll, dass Europa künftig selbst Abschiebepapiere ausstellen kann.
Bei der Feier anwesend war der Filmemacher Hans-Georg Eberl aus Wien. Er berichtet, dass Keïta sagte, dass die Regierung an ihrer Linie festhalte. Ohne malischen Pass keine Abschiebung nach Mai. Anderes werde es nicht geben. Diarra hatte Camaras Zettel extra gescannt, nun warf er das Bild des Zettels von den schwedischen Behörden vor den versammelten Gästen mit einem Projektor an die Leinwand. Er wisse davon nichts, sagte Keïta. Das „Haute Conseil“, der Hohe Rat seines Ministeriums, werde eine Untersuchung in der Sache einleiten.
Einen Stimmungswandel kaufen
Keïta dürfte die Unwahrheit gesagt haben. Nur drei Tage nach der Feier landet eine Delegation der EU in Bamako: Italiens Außenminister und künftiger Regierungschef Paolo Gentolini, der Staatsekretär Dominico Manzione und der EU-Kommissionsvertreter Franc Lucani. Sie trafen den Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita. „Der Austausch konzentrierte sich in erster Linie auf Fragen der Migration“, heißt es bei der EU.
2004 wurden 5.495 Malier aufgefordert, die EU zu verlassen, 610 wurden abgeschoben – eine Rate von 11,1 Prozent. Seit dem Gipfel von Afrikanischer Union und EU im November 2015 in Valletta hat die Steigerung dieser Quote für die EU höchste Priorität. Allein Mali bot sie für's erste 145 Millionen Euro und für die nächsten Jahre wohl noch mehr – wenn es „konkrete und messbare Ergebnisse bei der zügigen operativen Rückführung irregulärer Migranten“ gebe, wie es in einem Ratspapier heißt.
Auch mit Senegal, Nigeria, Niger und Äthiopien verhandelt die EU seit Monaten über solche Abkommen. Es wäre das Ende der Sorgen der AG Rück. Was mit Joseph Koroma geschah, kann dann jedem Afrikaner blühen. Länder wie Deutschland oder Schweden sind nicht mehr auf die unkalkulierbaren, teils korrupten Botschaften angewiesen. Sie können im Prinzip jeden Flüchtling dahin abschieben, wo die Papiere anerkannt werden – egal, woher die Person tatsächlich stammt.
Welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit ein solches Papier ausgestellt werden kann, das verrät der zuständige Europäische Auswärtige Dienst der EU-Kommission auf Anfrage nicht. Die Behörden dürften recht freie Hand haben. So könnte es noch viele Menschen wie Joseph Koroma geben, bei denen die Polizei an der Tür klopft, um sie in ein fremdes Land zu bringen.
Mitarbeit: Daniel Mützel (Berlin), Reinhard Wolff (Stockholm), Hans-Georg Eberl (Bamako)
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