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Zunehmende Gewalt in SyrienAssads Gräuel aufarbeiten

Kommentar von Daniela Sepehri

Die Jagd vor allem auf die Alawiten hätte verhindert werden müssen. Es mangelt an einer Aufarbeitung des gestürzten syrischen Regimes.

Das Land kommt auch nach dem Regime-Sturz nicht zur Ruhe: Syrische Soldaten bereiten eine Rakete zum Abschuss vor Foto: Moawia Atrash/dpa

D ie syrische Übergangsregierung unter Ahmed al-Scharaa spricht verharmlosend von „individuellen Aktionen“. Laut Men­schen­recht­le­r ist der Begriff Massaker richtiger. Es sind gezielte Vergeltungsschläge gegen eine Religionsgemeinschaft, der auch der gestürzte Despot Baschar al-Assad angehört. Mit ausgelöst wurde das aktuelle Blutvergießen allerdings von bewaffneten Anhängern des früheren Diktators und Kämpfen mit syrischen Sicherheitskräften.

In mindestens 29 Orten der Gouvernements Latakia, Tartus und Hama wurden in der Folge laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte Hunderte Zi­vi­lis­ten, meist Alawiten, ermordet. Bewaffnete erschossen Menschen auf offener Straße. Besonders tragisch ist, dass unter den Betroffenen auch Verfolgte des Assad-Regimes sind, deren Angehörige zum Teil verschollen sind. Diese Massaker wären vermeidbar gewesen.

Men­schen­recht­le­r warnten schon früh, dass ohne eine Aufarbeitung der Assad-Verbrechen Racheakte folgen würden. Die neuen Machthaber versäumten es, Mechanismen der Übergangsjustiz zu etablieren, um den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Die aktuelle Instabilität ermöglicht es Milizen verschiedener Couleur, willkürlich zu agieren. Auch die internationale Gemeinschaft trägt Verantwortung.

So drehte sich die Debatte beim Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock um den verweigerten Handschlag. Offenbar fehlt schlicht das Interesse, an Lösungen für langfristige Stabilität zu arbeiten. Zeitgleich zu den Massakern einigten sich SPD und Union im Sondierungspapier über die Wiederaufnahme von Abschiebungen nach Syrien. Nicht zuletzt angesichts der aktuellen Sicherheitslage vor Ort ist das eine unverantwortliche Entscheidung.

Die internationale Gemeinschaft darf nicht länger schweigend zusehen. Es müssen konkrete Schritte zur Aufarbeitung des Assad-Regimes unternommen werden – ohne dabei die islamistischen Gruppen unter al-Scharaa zu verharmlosen. Die Gewalt wird sonst immer weitergehen.

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13 Kommentare

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  • Wer hätte in Syrien die genannte Auseiandersetzung von aussen mit welchen Mitteln verhindern können?

  • Da muss auch ich an Dominic Johnsons Artikel "Freut Euch über Syrien!" zurückdenken. Johnson echauffiert sich über weite Teile der Medienlandschaft, die aufgrund der Machtübernahme durch Islamisten skeptisch sind. Mit ironischem Unterton bemängelt er, dass Islamisten als "die Bösen" und als nicht vertrauenswürdig hingestellt würden.



    Unter anderem heißt es da: „Zur Erinnerung: Das Terrorregime in Syrien war jenes Regime, das gerade gestürzt worden ist. Die HTS hat Syrien befreit – nicht als Terrormiliz, sondern als Türöffner für alle unterdrückten demokratischen Kräfte in Syrien, die überhaupt überlebt haben. Jetzt werden sie alle das Land neu gründen, plural und vielfältig.“



    Als könnte nicht auf ein Terrorregime das nächste folgen. Und wann haben Islamisten jemals ein Land regiert, dass man als "plural und vielfältig" bezeichnen konnte? Oder meinen wir damit vielleicht grundlegend verschiedene Dinge?



    Und der verweigerte Handschlag verweist nun mal auf eine Geringschätzung von Frauen im konservativen Islam. Es ist leider typisch für einen großen Teil der Gegenwartslinken, dass man so etwas (zumeist aufgrund eines ziemlich gefährlichen Kulturrelativismus) nicht so schlimm findet.

    • @Taugenichts:

      Das hatte ich auch gedacht, als ich die Nachrichten vom Massaker hörte.

  • Also nach unserer Lesart war Assad das schlimmste, was in Syrien passieren konnte und jede Ablösung automatisch eine Verbesserung der Lage.

    Jetzt haben wir ein Vorgehen der neuen Führung die sich nur als ethnische Säuberung, bzw., sollte das noch ein paar Tage oder Wochen so weiterlaufen, klar als Völkermord bezeichnen lassen.



    Das gab es nicht mal unter Assad.



    Innerhalb weniger Tage wurden über 1000 Zivilisten einfach regelrecht hingerichtet. (Und so viel Bevölkerung lebt dort nicht. Wie gesagt: Lasst das noch ein bisschen laufen, dann ist von den Alawiten niemand mehr übrig!)

    Aber auch das werden wir den neuen Machthabern verzeihen.



    Denn es sind immerhin unsere Völkermörder.

    • @TeeTS:

      Doch das gab es unter Assad. Und im Moment ist der Großteil aller Toten Kämpfer, darunter einige hundert der neuen Regierung. Von Völkermord sind wir noch weit entfernt.

  • Die Naivität deutscher Politiker im Bezug auf Syrien ist tatsächlich erschreckend. Als würde mit dem Sturz Assads automatisch alles gut.

    Genauso übrigens auch die taz: Dominic Johnson's unkritischer Blick auf die dschihadistische (und angeblich geläuterte) HTS kurz nach dem Abgang Assads kam mir damals schon reichlich naiv vor.

    Immerhin ruft der neue Präsident rein rhetorisch zum Ende der Gewalt auf und verkündet, dass die Verantwortlichen für die Massaker zur Rechenschaft gezogen würden. Aber hat er dazu überhaupt die reale Macht? Es scheint doch eher, dass er seine eigene HTS alles andere als im Griff hat.

  • Ganz bestimmt gäbe es keine Racheakte, wenn doch nur ein paar deutsche Richter da die ehemaligen Assadschergen zu lächerlichen deutschen Strafen[1] verurteilt hätten. Muß man nur fest dran glauben.

    [1] www.ndr.de/nachric...r,prozess9420.html

  • Haben die neuen Machthaber in Syrien und ihre Mentoren überhaupt ein Interesse an einer Aufarbeitung? Rache ist doch viel einfacher.

  • Zunächst mal scheint es so, daß linke, progressive Gruppen in diesem Konflikt nur Zaungäste des Geschehens sind. Traurig aber wahr.

  • "Men­schen­recht­le­r warnten schon früh, dass ohne eine Aufarbeitung der Assad-Verbrechen Racheakte folgen würden." Da stimme ich ja zu, nur das Regime wurde erst im Dezember gestürzt. Die Türkei und Israel haben den Sturz zum Anlass genommen um völkerrechtwidrig ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Die Amerikaner sind noch da. Man musste ja erstmal innenpolitisch für Stabilität sorgen und eine Übergangsregierung schaffen. Die Aufarbeitung eines Jahrzehntelangen Verbrechensregimes kann ja nicht über Nacht erfolgen und wenn es richtig gemacht werden soll, sollte sich dafür Zeit genommen werden. Wir haben noch Dekaden nach dem 2. Weltkrieg Naziverbrecher vor Gericht gebracht und das auch weil nicht richtig aufgearbeitet wurde. Und so lange die internationale Gemeinschaft nicht dafür sorgt, das sich andere Länder aus Syrien raushalten und ihre Truppen abziehen, wird es schwer mit innenpolitischer Stabilität.

  • Man hätte nach dem Sturz Assads die Übergangsregierung unter al-Scharaa doch etwas „an die Hand nehmen“ müssen, um zu helfen, in Syrien einen funktionsfähigen Justizapparat aufzubauen, der einen nachhaltigen Prozess der Aufarbeitung der Assad-Verbrechen hätte gewährleisten können.



    Sowie eine entschlossene/robuste Unterstützung des Bemühens, die vielen Milizen zu entwaffnen und in die neuen syrischen Streitkräfte zu integrieren. Beides ist von den HTS-Machthabern zwar angekündigt, aber offensichtlich noch nicht angegangen worden. Möglicherweise wären die Massaker an den Alawiten so zu verhindern gewesen. Jetzt droht das Land, erneut im Bürgerkriegschaos zu versinken.



    Aber die Mächtigen der Welt - USA, Russland, China und die EU - plagen im Moment offenbar andere Sorgen.

  • Zitat: Men­schen­recht­le­r warnten schon früh, dass ohne eine Aufarbeitung der Assad-Verbrechen Racheakte folgen würden.

    War doch klar. Und wenn die Jetzigen vertrieben werden, geht es in die nächste Runde der Rache. Das Problem, alle Konflikte im arabisch-islamischen Bereich sind Religionskriege. Solange das nicht akzeptiert wird und immer schön Ausreden gesucht werden, wird sich nichts ändern.

  • Mit Verlaub, aber hier macht es sich die Autorin zu einfach: die Massaker sind ja nicht das Werk verzweifelter Assad-Opfer, sondern, wenn man den Berichten auch in hiesigen Medien trauen darf, die Taten islamistischer Milizen (mit einem erheblichen Anteil an Nicht-Syrern), die schlichtweg keine religiösen Minderheiten in ihrem Herrschaftsbereich dulden.