Zum Tod von Sigmund Jähn: Hoch hinaus mit Bodenhaftung
Buchdrucker, Pionier, Offizier – und schließlich der erste Deutsche im Weltall. Sigmund Jähn war loyal zu seinem Staat, aber kein Claqueur.
Der Bundeswehrsoldat Reiter war gerade für die europäisch-russische Mission Euromir 95 ausgewählt worden. Nun war ihm etwas unwohl bei dem Gedanken, mit der Familie für mehr als ein Jahr in das „Sternenstädtchen“, eine geschlossene Stadt bei Moskau, zu ziehen – ganz ohne Kenntnisse von Sprache und Kultur dieses Landes.
Wie gut, dass es diesen Sigmund Jähn gab, der das alles schon lange hinter sich hatte, weil er 1978 mit einem sowjetischen Raumschiff für sieben Tage ins All geflogen war. Jähn kannte die sowjetische Raumfahrt und ihre eigentümlichen Traditionen. Dazu gehörte, dass sich alle Raumfahrer am Vorabend des Fluges den sowjetischen Western „Weiße Sonne der Wüste“ ansahen und vor dem Start noch einmal die Räder des Busses anpinkelten, der sie zur Startrampe brachte. Wenn es ein Bild brauchte, das die Veränderungen anzeigt, die sich um das Jahr 1990 ereignet hatten, dann dieses: In einer englischen Kneipe redet ein ehemaliger Generalmajor der NVA beruhigend auf einen Tornado-Piloten der Bundeswehr ein, dass er getrost nach Moskau ziehen könne.
Das war der Beginn der zweiten, „gesamtdeutschen“ Karriere des hoch dekorierten „Helden der DDR“. Die erste wäre 1978 um ein Haar gescheitert. Sigmund Jähn und sein sowjetischer Kommandant Waleri Bykowski waren mit dem Sojus-Raumschiff am 26. August 1978 planmäßig gestartet, hatten wenig später an der Raumstation Saljut 6 angedockt und wollten umsteigen. Doch die Luke klemmte. Jähn und Bykowski rissen an der Klappe, die den Weg in die Raumstation versperrte. In der Schwerelosigkeit brachte das allerdings nicht viel. „Ich schwitzte Blut und Wasser und mir kam der niederschmetternde Gedanke, dass wir vor verschlossener Tür wieder umkehren mussten“, erinnerte sich Jähn später. „Aufstieg gelungen, Umstieg verpatzt!“ Schließlich stützten sich die beiden Männer mit den Füßen an den Seiten des Raumschiffes ab und zerrten gemeinsam mit Leibeskräften. Langsam gab die Luke nach. Der Dichtungsring hatte sich festgesaugt.
Propaganda mit DDR-Wimpeln und Lenin-Bildern
Was dann folgte, waren tägliche Direktübertragungen, eine Pressekonferenz, dazu allerlei DDR-Wimpel, sowjetische Fahnen, Marx- und Leninbilder, Abzeichen, ein kosmischer Poststempel – kurzum ideologischer Schnickschnack, der die Überlegenheit des Sozialismus und den Bruderbund zwischen der DDR und der Sowjetunion beweisen sollte. Für die Jüngsten wurde der DDR-Sandmann in der Schwerelosigkeit kurzerhand mit dem sowjetischen Strohpüppchen Mascha vermählt, sodass auch den Kleinsten klar werden musste, dass der siebte Himmel nur sozialistisch sein konnte. „Der erste Deutsche im All – ein Bürger der DDR“, hatte das Neue Deutschland am Tage nach dem Start verkündet. Die Springer-Presse hingegen höhnte von „Sachso-Germanen“ und dem „Mitesser in der Russen-Rakete“. Dennoch: Ein paar Spätsommertage lang gab der Vogtländer Sigmund Jähn den Menschen in der DDR das Gefühl, den Westen, der auf wirtschaftlichem Gebiet längst enteilt war, überflügelt zu haben.
Streng genommen hielt das Gefühl bis 1983 an. Dann erst reiste mit Ulf Merbold der erste Bundesbürger mit dem amerikanischen Spaceshuttle Columbia von Florida aus ins All. Zehn Tage blieb Merbold dort, was die bundesdeutschen Medien ausgiebig feierten. Dass Merbold wie Jähn aus dem Vogtland stammte, wurde nicht weiter betont.
Sigmund Jähn beteuerte stets, dass er bei seiner Mission biologische und physikalische Experimente an Bord der Station Salut 6 zu erledigen hatte, die es auszuwerten galt. Zunächst aber wurde die Sternenreise nach Jähns Rückkehr am 3. September 1978 ideologisch verwertet. Der Vogtländer war schließlich nicht nur wegen seiner mentalen und physischen Qualitäten eine Idealbesetzung. Als Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee hatte er zuvor eine glänzende DDR-Karriere hingelegt, die ihn vom Pionierleiter zum Jagdflieger aufsteigen ließ. Extrablätter druckten Bildstrecken: der Knabe Sigmund mit Kaninchen, der junge Mann als Pilot, bei der Hochzeit, beim Angeln, als Vater, als Genosse.
Leonid Breschnew und Erich Honecker dekorierten ihn mit Orden, er wurde von Werktätigen empfangen, von Schulklassen gefeiert und in Bronze gegossen, ein Schiff trug seinen Namen. Jähn hat die Huldigungen in einer Mischung aus Pflichtbewusstsein und Dankbarkeit über sich ergehen lassen.
Loyal, aber kein Regimetreuer
Daraus Regimetreue abzuleiten geht allerdings fehl. Jähn hat sich in den letzten, gewalttätigen Monaten des SED-Staates jedenfalls mit Äußerungen, gar Ergebenheitsadressen zurückgehalten. Loyal, das war er gegenüber Staat und Regierung. Sigmund Jähn, der als Sohn eines Sägewerksarbeiters und einer Näherin am 13. Februar 1937 im sächsischen Morgenröthe-Rautenkranz geboren wurde, einem Dorf mit 800 Einwohnern, nutzte alle Aufstiegsmöglichkeiten, die einem jungen Menschen in der DDR zur Verfügung standen, vorausgesetzt, er selbst war willig und seine Herkunft passte in das ideologische Schema der SED. Bei Jähn stimmte beides. Er wurde Buchdrucker, dann Pionierleiter, Mitglied der SED, dann Offizier und Jagdflieger, dann Kosmonaut. Und nach der Rückkehr wurde Sigmund Jähn zum Volkseigentum. Zumindest für ein paar Jahre.
Als alle Triumphzüge bewältigt waren, der Alltag einkehrte und die „Weltraumnation“ DDR weiter an ganz irdischen Krankheiten laborierte, hat sich Sigmund Jähn etwas aus dem Rampenlicht zurückgezogen. Ulf Merbold war auf dem Weg ins All, da wertete Jähn in Potsdam endlich die wissenschaftlichen Ergebnisse seines Fluges aus und promovierte am Zentralinstitut für Physik der Erde auf dem Telegrafenberg. Heute befinden sich dort das GeoForschungsZentrum und das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.
Mit einer Spezialkamera, der MKF 6 aus dem VEB Carl Zeiss Jena, die damals tatsächlich „Weltniveau“ hatte, hatte Jähn von der Raumstation die Erde fotografiert. Die dabei entstandenen Bilder gaben sehr genau Auskunft über Bodenschätze, den Zustand von Wäldern, Wasser und Böden und über das Wetter. Jähn wurde 1983 mit „Summa cum laude“ promoviert, zum Generalmajor befördert und aufs Altenteil abgeschoben. Was ist es anderes, wenn er Leiter des Zentrums für Kosmonautenausbildung bei der NVA wurde? Trotz vieler begeisterter Kinder, die ins All fliegen wollten – die DDR bildete keine Kosmonauten mehr aus. Die Sowjets boten weitere Flüge nur gegen Geld an und so flogen Kosmonauten aus Frankreich und Indien ins All, jedoch kein weiterer DDR-Bürger. Den wichtigsten Auftrag hatte Sigmund Jähn ohnehin erledigt: fünf Jahre vor dem Bundesbürger Ulf Merbold dort zu sein, wo nur die großen Staaten nach den Sternen griffen.
Astronaut Ulf Merbold über Sigmund Jähn
Wenn sich die „Klassenfeinde“ treffen
Ulf Merbold war dann derjenige, der Sigmund Jähn zu seiner zweiten Laufbahn verhalf. 1984 trafen sich die beiden gebürtigen Vogtländer, eigentlich noch „Klassenfeinde“, am Rande einer Tagung im österreichischen Salzburg und tasteten einander ab. „Es war wie ein Ballspiel“, erinnerte sich Merbold später. „Unsere gemeinsame Erfahrung nach den Raumflügen war, dass wir auf einem sehr kleinen Globus leben.“ Ein Atomkrieg würde alles in Asche legen.
1987 wurde Merbold zum Leiter des Astronautenbüros des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt und verblüffte bereits im Frühjahr 1989 mit der Idee, auf die Sowjets zuzugehen und eine gemeinsame Mission auf die Raumstation Mir vorzuschlagen. Der ideale Betreuer sei Sigmund Jähn. Merbolds Chef hielt das zwar für eine „verrückte Idee“, Jähn war schließlich NVA-General. Doch wenig später reiste Jähn mit Honeckers Billigung erstmals nach Köln. Als die Berliner Mauer fiel, hatte Jähn bald einen Werkvertrag in der Tasche über seine Mitarbeit als „Verbindungsmann zum Sternenstädtchen“.
Jähn bezog im „Sternenstädtchen“ bei Moskau ein Büro. In der abgeschirmten Siedlung wurden die Kosmonauten an allerlei Geräten ausgebildet, in einem Bassin wurde die Schwerelosigkeit simuliert, und in einer Kapsel, einer furchterregenden Zentrifuge, wurden die Kräfte, die bei Start und Landung wirken, trainiert. An einem Weiler mitten in dem abgesperrten Areal stehen Bungalows, in denen die westlichen Gäste mit etwas mehr Komfort als in den Plattenbauten ringsum untergebracht werden. Auch Jähn richtete sich ein. Später erzählte er einmal, dass er gern ganz nach Russland gezogen wäre. Allerdings sei seine Frau Erika davon nicht zu überzeugen gewesen. Als Jähn als Verbindungsmann der ESA längst einen Nachfolger hatte, sah man ihn durch das Sternenstädtchen gehen, wie er Hände schüttelte, Freunde begrüßte und kleine Reisegruppen durch die Hallen führte, in denen die Kosmonauten vorbereitet wurden.
Der erste Deutsche, der nach Sigmund Jähn mit einer Sojus-Rakete zur Raumstation Mir flog, war 1992 Klaus-Dietrich Flade. 1995 folgte jener skeptische Thomas Reiter, dem Jähn im Pub in Mittelengland die Angst vor den Russen genommen hatte. Der letzte deutsche Gast auf der Mir war 1997 Reinhold Ewald.
Jähns zweite deutsch-deutsche Karriere
Im Jahr 2001 verglühte die russische Raumstation im Pazifik. Doch Sigmund Jähns Vermittlerrolle war damit noch lange nicht beendet. Im Juni 2018 war Jähn wieder einmal im Kosmodrom Baikonur in Kasachstan und verfolgte den Start von Alexander Gerst zur ISS. Da war Jähn unter den deutschen Raumfahrern, aber auch unter den vielen Enthusiasten mit DDR-Provenienz längst zu einem Mythos geworden.
Man muss den Andrang einmal erlebt haben, wenn Jähns Heimatort Morgenröthe-Rautenkranz zu den Raumfahrttagen einlädt. Sternenkundige nehmen genauso die beschwerliche Anreise in Kauf wie Hobbyingenieure, Spezialisten, gewesene, aktive und zukünftige Kosmonauten und natürlich Fans, Freunde und Kameraden. Sie alle scharten sich alle zwei Jahre um das Zentralgestirn Sigmund Jähn. Hochrangige Manager der ESA, der Europäischen Raumfahrtagentur, kamen mit genauso großer Regelmäßigkeit wie russische Raumfahrer. Ulf Merbold und Thomas Reiter versäumten kaum ein Treffen. Und seine engsten Freunde versammelte Jähn, der längst in Strausberg bei Berlin wohnte, dann am Abend auf seiner heimatlichen Datscha in Morgenröthe-Rautenkranz. Russische Traditionen, darf man annehmen, musste er da keinem mehr lehren.
2008 war auch Waleri Bykowski mit dabei, setzte sich mit Sigmund Jähn abseits vom Trubel an den Straßenrand und rauchte eine Zigarette nach der anderen, sodass man sich unvermittelt fragte, wie er es die Woche im Kosmos ausgehalten hatte. Bykowski, ein Kosmonaut der Gagarin-Generation, der erstmals 1963 ins All geflogen war, bekannte später, dass er skeptisch war, als er hörte, dass er 1978 mit einem Deutschen fliegen würde. Sigmund Jähn hat mit seiner ruhigen, einnehmenden Art auch den Russen überzeugt.
Mag es zwischen dem Westen und der Russischen Föderation inzwischen wieder ein Übermaß an Spannungen geben, wer sich in Morgenröthe-Rautenkranz versammelte, hatte die Welt aus einer höheren Warte erlebt. Bei eher seltenen öffentlichen Auftritten betonte Jähn immer wieder die Verletzlichkeit der Erde. Die Umweltverschmutzung, die Rodung der Regenwälder, die Veränderungen des Weltklimas. „Wir sollten unsere Erde schützen“, betonte Sigmund Jähn im vergangenen November vor Schülern in Göttingen.
Als ein ehemaliger sowjetischer Kommunist und Raumfahrtexperte Sigmund Jähn gegenüber bekannte, dass er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gläubig geworden sei, bekannte Jähn: „Ich bin Atheist.“ Sein großer Traum, noch einmal ins Weltall zu fliegen, hat sich nicht erfüllt. Am Samstag ist Sigmund Jähn im Alter von 82 Jahren in Strausberg bei Berlin gestorben. Man möchte ihm wünschen, dass er sich die Welt jetzt wieder von oben ansehen kann.
Korrektur: Zunächst hatte es im Text geheißen, Ulf Merbold stamme wie Sigmund Jähn aus dem „sächsischen Vogtland“. Es stimmt zwar, dass beide aus dem Vogtland stammen. Merbold ist jedoch in Greiz auf die Welt gekommen und in Wellsdorf aufgewachsen – beides liegt im thüringischen Vogtland an der Grenze zu Sachsen.
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