Zum 100. Geburtstag von Mala Zimetbaum: Die Heldin von Auschwitz
Mala Zimetbaum rettete viele Häftlinge im KZ, verliebte sich und floh schließlich – erfolglos. Sie starb als Heldin, ihren Namen kennen aber nur wenige.
Heimlich allerdings schnitt sich Mala Zimetbaum, auf der Lagerstraße wartend, mit einer Rasierklinge die Pulsadern auf. Wer sie ihr zugesteckt hatte, ist nicht bekannt. Als der SS-Bewacher es merkte und sie hindern wollte, schlug sie blutend auf ihn ein. Die Symbolik der Szene ist sehr stark, denn nun klebte im Gesicht des Nazis, wie auch an seinen Händen, Blut. Andere Internierte des Frauenlagers standen dabei, deshalb ist diese Szene vielfach bezeugt.
Heldin, das ist etwas Großes, etwas, das in die Geschichte eingeht, um Nachgeborenen Orientierung zu bieten. Möglich, dass Mala Zimetbaum sich doch irrte: Ja, sie ist als Heldin gestorben, aber gekannt wird ihr Name heute kaum. Keine Straße, kein Platz, keine Schule ist in Deutschland nach ihr benannt. Ihres 100. Geburtstags am 26. Januar, einen Tag vor dem Gedenktag für die Opfer des Holocaust, wurde nicht gedacht. Dabei hat sie das Menschsein und die Liebe verteidigt, in Auschwitz, in der Hölle also.
„Ich hab sie gekennt“, sagt Leo Schumer. „Gekennt“, wie im Jiddischen. Er ruft es mehr, als er es sagt, ein paar Tage vor Mala Zimetbaums Geburtstag ins Telefon. Und später auf seinem Sofa in der sonnendurchfluteten Wohnung in einem kleinen Ort bei Antwerpen, sagt er es wieder, sagt es, und wenn er an sie denkt, verändert sich sein Gesicht, sein Lachen wird weich: „Ich war verliebt in das Fräulein. Sie war so schön. Und so blond.“ Seine Liebe zu der jungen Frau war die eines Fünf-, Sechsjährigen, der er damals 1941/42, war. „Ich sehe sie immer noch genau vor mir.“
Mala Zimetbaum kam dreiundzwanzigjährig oft ins Haus der Schumers, um dort zu essen. Warum? Leo Schumer erklärt es so: Als mit der deutschen Besetzung Belgiens ab Mai 1940 und der darauf folgenden wirtschaftlichen Ausbeutung durch die Nazis für viele, auch für die Familie Zimetbaum, die Existenzgrundlage zusammenbrach, luden wohlhabende Antwerpener Juden – und Schumers Eltern waren es – Ärmere zu sich nach Hause zum Essen ein. Sein Vater hatte eine Diamantenschleiferei, Antwerpen ist Diamantenstadt. Kennengelernt hatten die Schumers die Zimetbaums, weil sein Großvater in der kleinen Synagoge betete, die Mala Zimetbaums Vater im jüdischen Viertel unterhielt, das damals östlich der Bahntrasse zum Zentralbahnhof lag.
Geblieben, der Eltern wegen
Mala Zimetbaum ist im Januar 1918 in Brzesko im polnischen Galizien geboren, das jüngste von fünf Kindern, eines starb früh. 1928, als sie zehn war, siedelte sich ihr Vater mit seiner Familie in Antwerpen an. Warum er in Mainz, wo die Zimetbaums von 1913 bis 1917 wohnten, nicht bleiben konnte, ist nicht bekannt. Nur dass in der Familie, als sie zurück in Polen ist, vor allem deutsch gesprochen wurde und sie „die Deutschen“ genannt wurden. Das hat die vier Jahre ältere Schwester von Mala, die den Holocaust überlebte, so berichtet.
Als die Familie nach Antwerpen zieht, ist der Vater bereits blind. Finanziell über die Runden kommen sie nur, weil die Mutter und die älteren Geschwister zum Familieneinkommen beitragen. In Antwerpen lebten vor dem Zweiten Weltkrieg etwa 60.000 Juden und Jüdinnen, viele von ihnen arbeiteten im Diamantengewerbe, so auch Geschwister von Mala und deren Ehepartner. Mala, eine hervorragende Schülerin, die aufgrund der angespannten Finanzlage nicht auf eine höhere Schule kann, wird Näherin. Nebenbei macht sie Bildungskurse, interessiert sich, wie viele Teenager damals, für die zionistische Bewegung, verliebt sich, verlobt sich (er wird 1944 in Auschwitz ermordet).
Sie wechselt später, aufgrund der Sprachen, die sie beherrscht, in die Verwaltung der American Diamond Company. Das Leben könnte normal sein, wäre da nicht die zunehmende Bedrohung durch die Nazis. Anders als viele, die sich in Belgien noch sicher fühlen, spürt Mala Zimetbaum sie, knüpft Kontakte zur örtlichen Widerstandsgruppe, hilft den Brüdern ihres Verlobten in die Schweiz zu emigrieren. Als sich die American Diamond Company auf Geheiß der Nazis auflösen muss und man ihr vorschlägt, wie die Firmeninhaber in die USA auszureisen, bleibt sie wegen ihrer Eltern.
Reiseführer durch die Vergangenheit
Leo Schumer ist jetzt der Reiseführer durch diese Vergangenheit, er zeigt den ehemaligen Sitz der Gestapo in Antwerpen und das Denkmal für die Holocaustopfer unweit davon. Die Straße liegt westlich der Bahnlinie zum imposanten, dem Pantheon nachgebauten Zentralbahnhof und nun mitten im neuen jüdischen Viertel. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Juden und Jüdinnen auf der anderen Seite des Bahndamms angesiedelt. In Antwerpen ist die jüdische Gemeinde immer lebendig geblieben, jetzt gehören etwa 25.000 Menschen dazu. Da viele von ihnen orthodox sind, sind sie im Stadtbild sehr sichtbar.
Auf die östliche Seite der Bahnstrecke, da, wo das jüdische Quartier früher war, fährt Schumer nicht gern. „Dorten erinnert mich alles an meine verlorene Familie“ – zehn Menschen sind umgebracht worden. „Dorten“ sagt er, wieder färbt das Jiddische sein Deutsch.
Trotzdem, er macht es, fährt unter der Eisenbahnbrücke durch auf die andere Seite. Auf der Straße Plantin en Moretuslei zeigt er auf ein Haus, „da bin ich geboren“. Es ist mit Stuck verziert und mit Balkonen. Kurz darauf biegt er links in die Kroonstraat, und zeigt auf ein Haus, „da wohnte meine Tante“ (ermordet mit Mann und Kindern in Auschwitz), er deutet nach vorne, „da wohnten meine Großeltern“ (ermordet in Auschwitz) und dann verliert er die Orientierung bei der Suche nach der Marinisstraat.
Der Fotograf, der mit im Auto sitzt und vor nicht allzu langer Zeit in der Gegend gewohnt hat, zeigt ihm den Weg. Unterwegs deutet Schumer auf ein weiteres Haus, das einmal Rundbogenfenster gehabt haben muss, die jetzt weiß überstrichen sind. „Dort hatte Mala Zimetbaums Vater seine Synagoge“ (auch er, seine Frau, die drei Enkel, die bei ihnen wohnten, wurden in Auschwitz ermordet).
Endlich biegt Schumer in die Marinisstraat, parkt vor dem Haus Nummer 7, Knöterich rankt sich die Balkonbrüstungen hoch bis zum Dach. „Da wohnte Mala Zimetbaum“, sagt er. Eine Bronzetafel an der Fassade erinnert an sie. „Für Mala Zimetbaum, Symbol der Solidarität, die am 22. August 1944 starb“, übersetzt der Fotograf. Das Datum irritiert. Es gibt mehrere Todestage von Zimetbaum. Der 15. September ist der wahrscheinlichste. „Am Anfang“, Schumer meint den Anfang nach dem Ende des Holocaust, „hat jeder was anderes gesagt.“
Das Haus ist schmal, drei Fenster in der Breite, vier Stockwerke hoch. Plötzlich öffnet ein Mann die Haustür, tritt auf die Straße, Antwerpener ist er, freundlich, aufgeschlossen. 1942 sei er geboren. Er wohnt jetzt im dritten Stock, wo die Zimetbaums einst lebten. Ja, er kenne die Geschichte und wisse, dass Mala in drei Tagen einhundert Jahre alt würde.
Seine Frau kommt kurz danach ebenfalls die Treppe herunter. Es stellt sich heraus: eine Deutsche. Aus Berlin. Ihr gehört das Haus jetzt. Sie hat einen weißblühenden Rosenstrauch unter die Gedenktafel gepflanzt und gebietet scharf, dass kein Foto in der Zeitung gedruckt werden dürfe, auf der er nicht blüht. Tags darauf entschuldigt sie sich per E-Mail für ihren Ton.
Pogrom in Antwerpen
Mit der Okkupation durch die Deutschen werden auch in Belgien Einschränkungen für die jüdische Bevölkerung angeordnet. Allerdings waren die Bewohner in Belgien nicht nach Religion registriert. Es wurde nachgeholt. Mala Zimetbaum wurde im Dezember 1940 im amtlichen Judenregister eingetragen. Als Staatenlose.
Im April 1941 kommt es in Antwerpen zu einem Pogrom. Deutsche und flämische Nazis brennen zwei Synagogen nieder, plündern jüdische Geschäfte. Ab 1942 wurde auch den Zimetbaums immer klarer: Es wird gefährlich. Malas Bruder wird zur Zwangsarbeit verpflichtet, flieht, taucht mit einer der Schwestern unter. Mala überredet ihre Eltern, sich ebenfalls zu verstecken, sucht einen Unterschlupf für sie, findet einen in Brüssel.
In Belgien ist die Bevölkerung in großem Maße bereit, Juden zu helfen. Es kommt jedoch nicht mehr zum Umzug. Mala Zimetbaum wird, kurz bevor die Familie untertauchen kann, am 22. Juli 1942 bei einer Razzia am Zentralbahnhof verhaftet. Man bringt sie in die Kaserne Dossin in Mechelen, 30 Kilometer südlich von Antwerpen. Dort wurden Juden und Jüdinnen interniert, bevor die Deportationen nach Auschwitz begannen.
Die Kaserne, ein von vier Seiten umbauter Appellplatz, ist heute großenteils in Eigentumswohnungen aufgeteilt. Der Platz im Innenhof, von wo aus die jüdischen Männer, Frauen und Kinder deportiert wurden, ist nun ein in die Erde eingelassenes Parkhaus, dessen Dach der etwas erhöhte Park der Wohnanlage ist. Parken, das bedeutet: bleiben.
Das Museum, das neben der Kaserne errichtet wurde, wo über die Geschichte des Holocaust in Belgien informiert wird, sieht dagegen wie ein hohes, kastiges Silo ohne Fenster aus. Die Architektur ist absichtlich so gewählt. Es gab kein Entrinnen. Auch Fotos von Mala Zimetbaum – und Postkarten, die sie von Auschwitz schrieb, sind dort ausgestellt.
Sie unterläuft die Befehle
In der Kaserne Dossin wird Mala Zimetbaum eine Arbeit bei der Registrierung der eintreffenden Juden und Jüdinnen zugeteilt. Schon da nutzt sie alle Möglichkeiten, um die Befehle zu unterlaufen. Sie findet Wege, Nachrichten nach außen zu schmuggeln, auch Schmuck Internierter, der hätte abgegeben werden müssen. Ein Bote bringt ihn zu ihrer Mutter, die ihn den Familien zurückgibt. Mala Zimetbaum schafft es zudem, Kinder vor dem Abtransport ins KZ zu bewahren, indem sie sie von den Deportationslisten streicht. Ihre Flucht plant sie auch, sie will mit ihrem Verlobten in die unbesetzte Zone in Frankreich. Kurz zuvor aber kommt sie selbst auf die Liste und wird am 15. September 1942 nach Auschwitz deportiert.
Leo Schumer, 82
„Wenn du Jude warst, musstest du damals jeden Tag Glück haben“, sagt Schumer in seinem Wohnzimmer. Er gehört zu denen, die aus allen brenzligen Situationen gerettet wurden. Acht, neun Jahre alt war er, als er mit seiner Schwester und seinen Eltern versuchte, über Frankreich in die Schweiz zu gelangen. Über ein Jahr dauerte die Flucht, mitunter waren die Kinder von den Eltern getrennt; immer war im entscheidenden Moment jedoch jemand da, der ihnen half. In der Schweiz wohnten die Eltern seiner Mutter. Die Großmutter war die Schwester Rosa Luxemburgs. In der Familie habe man sich ein wenig unwohl gefühlt wegen ihr, erzählt er. Warum? „Weil sie Kommunistin war.“
Mala Zimetbaums Glück war anders als Schumers. Sie kam nicht sofort ins Gas, als sie zwei Tage nach der Abfahrt aus Belgien in Auschwitz ankam. Sie wurde einem Arbeitskommando zugeteilt. Da sie viele Sprachen beherrschte, bekam sie sogar eine bessere Arbeit als die meisten ihrer Mitinternierten. Sie wurde Läuferin, lebende Post, Botin also im Lager. Dabei lernte sie viele Leute, aber auch das Lager selbst und die Hierarchien gut kennen. Das kommt ihrer eigentlichen Absicht und ihrem Selbstverständnis zugute, nämlich: so vielen Menschen wie möglich helfen, Widerstand leisten, auf Unmenschliches mit Menschlichem reagieren.
Widerstand im KZ ist unsichtbares Handeln. Überlebende haben vielfach bestätigt, dass sie durch Mala Zimetbaum gerettet wurden. Sei es, dass sie ihnen Essen organisierte oder anständige Kleidung. Dass sie Medikamente auftrieb oder dafür sorgte, dass Schwache leichtere Arbeit zugeteilt bekamen. Auch soll sie Informationen von außen über die Weltlage weitergegeben haben. Sie hat versucht, über Verwandte von Insassen in anderen Lagerblöcken etwas zu erfahren und Austausch hergestellt. Sie hat Tote auf Selektionslisten gesetzt, um so noch Lebende zu retten.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Sie hat auch Sachen von Kameradinnen versteckt, etwa wenn eine Entlausungsaktion anstand. Bei Entlausungen wurde die Kleidung in ein Entlausungsbad geworfen, die die Insassinnen dann nass zurückbekamen. Zogen sie sie nicht nass an, blieben sie nackt. Da Zimetbaum offenbar zudem gute Innensichten ins Krankenrevier hatte, wusste sie oft, wann Selektionen bevorstanden. Dann warnte sie Kranke, damit sie sich gesundmelden konnten, denn Selektion bedeutete: ab ins Gas.
Mala und Edeks Wahnsinnsliebe
Irgendwann im Jahr 1943 passiert etwas: Die Jüdin Mala Zimetbaum, Häftlingsnummer 19880, und der fünf Jahre jüngere polnische Katholik Edward Galinski, genannt Edek, Häftlingsnummer 531, verlieben sich ineinander. Er kam schon 1940 als politischer Häftling ins KZ. Als Schlosser war er öfters auch im Frauenlager tätig. Es muss eine Wahnsinnsliebe zwischen den beiden gewesen sein, gepaart mit großer Leidenschaft. Sie berührten sich nicht und dennoch schienen sie vereint, berichten überlebende Mithäftlinge. Sie erzählen auch, dass sich die beiden im Röntgenraum der Krankenbaracke oft trafen, dass der Tisch, auf dem der Lagerarzt Josef Mengele tagsüber seine Versuche machte, abends das Liebeslager der beiden war.
Im Frühsommer planen Edek Galinski und Mala Zimetbaum ihre Flucht. Etwa 900 Menschen sind aus Auschwitz geflohen, wie viele wieder gefangen und in der Regel sofort hingerichtet wurden, ist nicht klar, manche sagen: zwei Drittel wurden wieder gefasst, andere gehen von mehr aus. Für die Flucht organisierte sich Edek eine SS-Uniform, Mala wird den Anzug eines KZ-Arbeiters überziehen und ein Waschbecken über dem Kopf tragen, das ihr Gesicht verdeckt, so der Plan. Ein Passierschein wird wohl mit Hilfe einer Freundin, die als Häftling in der Verwaltung arbeitete, besorgt. Der falsche SS-Mann (Edek) bringt den falschen Arbeiter (Mala) angeblich zu einem Auftrag außerhalb des KZs.
Am 24. Juni 1944 gelingt den beiden die Flucht. 13 Tage sind sie in Freiheit. Mala Zimetbaum ist die erste Jüdin, die aus Auschwitz flieht. Am 6. Juli aber werden sie, die genauen Umstände sind unklar, von einer Patrouille gefasst und wieder nach Auschwitz gebracht. Sie werden verhört, sie werden gefoltert, die SS will Namen von Mitwissenden haben. Sie verraten niemanden.
Und bekommen heimlich Unterstützung: Einigen Quellen zufolge soll eine Wache es ihnen ermöglicht haben, sich nachts in einer Bunkerzelle zu treffen, um sich abzusprechen. Zu umarmen. Abschied zu nehmen. Andere Quellen sagen, dass nur dabei geholfen wurde, Nachrichten zwischen Edek und Mala zu übermitteln. Noch heute sind in den Bunkern in Auschwitz, in denen sie einsaßen, ihre Namen, die sie in die Wand ritzten, zu sehen. Edek Galinski stirbt am 15. September 1944. Seine letzten Worte: „Lang lebe Polen.“
Nach der missglückten Hinrichtung im Frauenlager, ziemlich sicher am gleichen Tag, wird Mala Zimetbaum zusammengeschlagen, schwerst misshandelt und auf einem Handkarren davongeschoben. Ob sie noch lebte, als sie ins Krematorium geworfen wurde, oder doch schon tot war, ist nicht klar. „Dieses Vieh kommt lebend in den Kamin“, soll Maria Mandl, die Oberaufseherin des Frauenlagers von Auschwitz-Birkenau, gebrüllt haben.
Warum kennen Deutsche Mala Zimetbaum nicht?
Leo Schumer sitzt im Versammlungsraum der jüdischen Organisation B’nai B’rith in der Lamorinierestraat in Antwerpen, den sie Mala Zimetbaum gewidmet haben. Ein Bild von ihr steht groß im mit Teppichen ausgelegten Saal. Jedes Jahr beten sie an ihrem Todestag das Kaddisch, das jüdische Totengebet. „Das ist wichtig für uns“, sagt Schumer. Und dann sagt er noch, dass man nicht denken solle, es gab nach dem Krieg nur Traurigkeit. „Niemand hat über das gesprochen, was war. Erst in den 80er Jahren begannen die Leute zu erzählen.“ Traumatisierte, das bestätigt die Forschung, können jahrzehntelang nicht über das sprechen, was sie erfahren haben. Sie verdrängen, um sich im normalen Leben überhaupt zurechtfinden zu können.
Francesca Paci, Journalistin
Ganz allerdings kann das nicht stimmen, wenn es um Mala Zimetbaum geht. Immerhin sammelten die Frauen, die überlebt hatten und ihr Überleben Mala verdankten, bald nach ihrer Rückkehr aus Auschwitz Geld für ein Denkmal für ihre Retterin. Vor einer Synagoge in Antwerpen wurde es aufgestellt. Der Rabbi jedoch duldete es nicht, es wurde zerstört. Schumer sagt, er sei dabei gewesen, als es geschah. Die orthodoxe Gemeinde konnte es damals nicht akzeptieren, dass sie einen Christen liebte, meint er.
Und in Deutschland? Warum kennt man Mala Zimetbaum hier nicht? Weil sie nicht nur Opfer sein wollte, sich den Nazis nicht unterwarf, die Würde des Menschen verteidigte und liebte, wo Liebe nicht erlaubt war? „Ja“, antwortet die italienische Journalistin Francesca Paci von La Stampa in einer E-Mail.
Sie ist an jeden Ort gefahren, wo Zimetbaum und Galinski ihren Fuß hingesetzt hatten, und hat vor zwei Jahren in Italien ein Buch über sie veröffentlicht, für das sie keinen deutschsprachigen Verlag findet. „Mala war ein einsamer Wolf. Edek auch. Sie kämpfte als Frau, nicht als Gruppe. Sie war Jüdin, aber nicht beim jüdischen Widerstand, sie arbeitete mit kommunistischen Gefangenen zusammen, war aber keine Kommunistin, sie floh aus Auschwitz, um der Welt davon zu berichten, aber sie floh auch aus Liebe. Sie half allen, arbeitete für die Deutschen, war jedoch niemals eine Kollaborateurin. Sie war schön, klug und dann hatte sie auch noch Sex.“
Lorenz Sichelschmidt, Sprachwissenschaftler aus Bielefeld, der 1995 ein kleines Buch über Zimetbaum schrieb, das kaum Beachtung fand, sieht es faktischer: Man erinnere sich nicht an sie, weil das, was sie hinterlassen hat – Solidarität, Leidenschaft, Widerstand, Würde und Liebe –, nicht materiell ist, nicht greifbar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen