Zukunft des Boxsports: Angst vor dem Olympia-Aus
Beim Boxen geht es drunter und drüber. Es wird über Kampfrichter, die Zulassungsfrage bei den Frauen und den suspendierten Fachverband gesprochen.
Boxen liefert. Große Geschichten, kleine Dramen, epische Schlachten und unzählige Skandale. Wer nur kurz mal vorbeischaut in der Arena Paris Nord, wo die Boxwettbewerbe in der ersten Woche des olympischen Turniers ausgetragen werden, hat jede Menge Stoff zum Staunen.
Schon in den ersten Runden geht das los. Aufgeregt läuft da die Ungarin Anna Hamori durch die Halle, als wüsste sie nicht, wo der Boxring steht. Ein halbe Stunde später steht sie jauchzend bei ihren Angehörigen auf der Tribüne und kann es kaum glauben, dass sie gerade ihren Kampf gegen die Irin Gráinne Walsh, die immerhin schon zwei Bronzemedaillen bei europäischen Titelkämpfen geholt hat, tatsächlich gewonnen hat.
Derweil steht der italienische Schwergewichtler Aziz Abbes Mouhiidine fassungslos in der Mixed Zone und beklagt sich über die Kampfrichter. Die hatten seinen Gegner, den Usbeken Lazizbek Mullojonow, stärker gesehen, obwohl der Italiener diesen in der Schlussrunde regelrecht vermöbelt hatte.
„Wieder einmal ist Italien beraubt worden“, wird sich später Flavio D’Ambrosi in einem geharnischten Schreiben an das Internationale Olympische Komitee beklagen. „Wir dachten, das IOC würde die Boxer vor dem ganzen Grauen der Vergangenheit beschützen. Aber es hat sich gar nichts geändert.“
Unverändert sind auch die Klamotten der Betreuer, die die kubanische Boxstaffel bei ihren Kämpfen in der Ecke betreuen. In ihren blau glänzenden Kitteln sehen sie aus wie Zeitreisende aus der Blütephase des kubanischen Kampfsports. Fassungslos schieben sie an diesem Tag Julio César La Cruz an den vier kubanischen Journalisten vorbei, die sich in der Mixed Zone aufgebaut haben.
Der Schwergewichtsolympiasieger von Rio de Janeiro und Tokio, der mit dem erklärten Ziel nach Paris gereist war, zum dritten Mal Gold zu holen, war doch tatsächlich nach seinem ersten Kampf raus aus dem Turnier. Ein Boxer aus Kuba kam dennoch weiter. La Cruz’ Gegner, Loren Alfonso, der in Paris für Aserbaidschan an den Start geht, ist in Havanna geboren.
Kulturkampf im Frauensport
Vier Tage später steigt die in der Gewichtsklasse bis 66 Kilo an Nummer fünf gesetzte Algerierin Imane Khelif in den Ring. Keine 50 Sekunden später hat sie den Kampf schon gewonnen. Ihre Gegnerin Angela Carini hatte das Handtuch geworfen und war so zur Heldin eines Kulturkampfs um den Frauensport geworden.
Aktivist:innen, denen nichts wichtiger zu sein scheint, als Transpersonen vom Frauensport fernzuhalten, haben soziale Medien mit Posts geflutet und die Teilnahme der Algerierin am olympischen Turnier zum größten Skandal der Spiele erklärt.
Khelif war ebenso wie die Taiwanesin Lin Yu‑Ting bei den Weltmeisterschaften im Jahr zuvor aus dem Turnier genommen worden. Es waren Tests durchgeführt worden, nach denen die Veranstalter beschlossen hatten, dass es falsch wäre, die beiden an einem Frauenwettbewerb teilnehmen zu lassen.
Bei Olympia dagegen dürfen sie starten, weil sie ihrem Pass zufolge Frauen seien, wie das IOC mitteilte. Wie es sein könne, dass ein Mann ausgerechnet im Boxen gegen Frauen antreten darf, war nun in Paris die Frage, die hunderttausendfach durchs Netz geschickt wurde.
In keiner anderen olympischen Sportart gelten bei Olympia grundsätzlich andere Regeln als im regulären internationalen Wettkampfgeschehen. Schließlich sind es die vom IOC anerkannten Fachverbände, die die Olympiawettbewerbe organisieren. Nur im Boxen ist das eben anders.
Auch da gibt es einen Verband. Doch jene International Boxing Association IBA ist vom IOC verstoßen worden, unter anderem, weil sie nicht erklären konnte, woher die Unsummen an Preisgeldern kommen, die sie bei ihren Veranstaltungen an die Boxer ausschüttet und die die totale Abhängigkeit vom russischen Staatskonzern Gazprom nahelegen.
Der russische Präsident der IBA, Umar Kremlev, hatte sich mit weitreichenden finanziellen Versprechungen die Unterstützung der Mehrheit der nationalen Verbände gesichert und als ein Gegenkandidat aufgebaut wurde, verhinderte er die Neuwahl. Auch das ist einer der zahlreichen Gründe, weshalb das IOC nicht mehr mit der IBA zusammenarbeiten möchte.
Den großen Kampfrichterskandal von Rio de Janeiro 2016 schleppte der Verband auch noch hinter sich her. Da waren offensichtlich russische Kämpfer bevorzugt worden, während Athleten aus den USA und Irland über das für das Boxen typische Ausmaß hinaus systematisch benachteiligt wurden.
Alternativer Verband stellt sich auf
Schon vor den Spielen in Tokio vor drei Jahren war es das IOC selbst, das die Olympiaqualifikation organisierte, ebenso wie die Olympiawettkämpfe. So ist es auch in diesem Jahr. Und nur deshalb war es möglich, dass in Paris andere Regeln bei der Zulassung von Sportlerinnen gelten als unter der Ägide von Kremlevs IBA. Ob das richtig ist, darüber wird noch viel gestritten werden, ganz so wie es sich für ein Boxturnier gehört.
Es könnte das letzte bei Olympischen Spielen sein. Die Angst geht um, bei den Spielen 2028 in Los Angeles werde es kein Faustkampfturnier geben. Tatsächlich hat das IOC bei der Entscheidung über das Sportprogramm in Los Angeles das Boxen erst einmal hintan gestellt.
Ausgerechnet in den USA soll es kein Boxturnier bei Olympia geben? Undenkbar, mag man meinen und an die großen, alten Boxzeiten zurückdenken. Der vielleicht berühmteste Sportler, den die Welt je hervorgebracht hat, war ein Boxer. Bei Olympia 1960 in Rom begann Cassius Clay, der Mann, der sich später Muhammad Ali nennen sollte, seine unfassbare Karriere. Und nun das Aus?
So weit wird es schon nicht kommen. Davon ist jedenfalls Michael Müller überzeugt, der Sportdirektor des Deutschen Boxsport-Verbands. „Nein, nein, wir werden es schaffen“, sagt er am Rand des Olympischen Ringes.
Wir – das ist der neue internationale Verband, der es unbedingt zu olympischen Ehren bringen möchte. World Boxing heißt der und hat sich Ende vergangenen Jahres in Frankfurt gegründet. Der Niederländer Boris van der Voorst ist zum Präsidenten gewählt worden, jener Mann, der bei der verhinderten Neuwahl der Verbandsspitze in der IBA der Gegenkandidat von Umar Kremlev war.
Eine ausgeklügelte Satzung ist auf der Website des Verbandes mit ein paar Klicks zu finden. „Sehr demokratisch“ sei die, sagt Müller „und von Schweizer Juristen geprüft“. Transparenz und Good Governance, dafür soll der neue Verband stehen. Überwachen sollen das unabhängige Institutionen. Offensichtlich ein Gegenentwurf zur IBA. Wird das verruchte Boxen endlich gut?
Russe Kremlev wirft mit Geld um sich
37 nationale Verbände haben sich schon angeschlossen. Mehr als 50 hätten schon angeklopft und möchten den neuen Weg mitgehen, berichtet Müller, der der Exekutive von World Boxing angehört. Weitere Nationen werden folgen, da ist er sich recht sicher.
Kremlev indes lässt nicht locker und macht, was ihn für viele Verbände so unwiderstehlich gemacht hat: Er wirft mit Geld um sich. Obwohl er mit dem olympischen Turnier offiziell nichts zu tun hat, lobte er Prämien für die Besten aus. 100.000 Dollar will er jedem Olympiasieger zahlen, 50.000 Dollar den Finalverlierern und 25.000 Euro allen Bronzemedaillengewinnern.
Und während Kremlev mit Mafiamethoden die Boxverbände an sich binden möchte, versucht World Boxing eine transparente Ausbildung und Installation für die Kampf- und Ringrichter zu organisieren. Eine erste Juniorenweltmeisterschaft ist ausgeschrieben. Im Herbst soll sie in Pueblo/Colorado stattfinden. Das Interesse sei groß, so Müller, das sei ja auch eine „Top-Destination“ in den USA. Die Zukunft des Boxens kommt ohne Reminiszenzen an die große US-Vergangenheit des Sports auch nicht aus.
Und der Deutsche Boxsport-Verband kommt ohne Olympiastatus nicht aus. Nur die olympischen Verbände haben die Möglichkeit, die höchste Förderstufe in Deutschland zu erreichen. Das bedeutet Geld vom Innen- und Sportministerium. Fällt der Olympiastatus weg, werden Gelder gestrichen, mit denen bis jetzt Trainer, Verbandsangestellte und Trainingslager bezahlt werden. Das Boxen kämpft um seinen olympischen Status und der Deutsche Boxsport-Verband um seine Existenz.
Werbung für Gegenolympia
Umar Kremlev wird Letzteres kaum interessieren. Der Ex-Rocker, der einst mit den putintreuen Nachtwölfen auf zwei Rädern Radau gemacht hat, kommentiert auf Instagram gerade genüsslich den Streit um die Teilnahme von Imane Khelif und Lin Yu‑Ting am olympischen Turnier. Ein Supermacho als Frauenversteher und Kämpfer für „die Integrität des Sports“.
Den IOC-Präsidenten Thomas Bach will er am liebsten stürzen, wie er auf einem frischen Video ankündigt. Nach der „Sodomie“, die er bei der Pariser Eröffnungsfeier gesehen haben will, präsentiert er sich als Hüter traditioneller Werte. Alle Verbände ruft er dazu auf, ihm treu zu bleiben und im kommenden Jahr bei den Friendship Games anzutreten, einer Art Gegenolympia, das von Russland organisiert wird.
In der olympischen Boxhalle steht unterdessen der nächste Kampf von Imane Khelif an. Die Auslosung wollte es, dass sie auf die Ungarin Anna Hamori trifft, die nach ihrem Erstrundensieg so gestrahlt hatte. Nachdem sich mit der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni eine Regierungschefin zu dem Fall geäußert und die Zulassung der Algerierin als ungerecht bezeichnet hat, ist die ungarische Kämpferin unfreiwillig zur Protagonistin einer wahren Staatsaffäre geworden. Das ist selbst für den Boxsport viel.
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