Zukunft der Kirchen: Was Kirchen sein könnten
Die Zahl der Kirchenaustritte steigt. Wenn sich die Apparate nicht bewegen, werden Kirchen bedeutungslos. Das würde Löcher ins soziale Netz reißen.
E s ist ein fester Termin im Leben von rund 50 Kindern zwischen 4 und 11 Jahren. Jede Woche kommen sie zum Singen in einem Raum in einem Berliner Hinterhof zusammen. Das Chorprojekt im Kiez ist ein Angebot der evangelischen Kirche, offen für alle Kinder, ob getauft, evangelisch oder konfessionslos. Das Mitmachen ist kostenlos, nach Auftritten gibt es ein Mittagessen, Kuchen, Getränke, Geschenke zu besonderen Anlässen.
In dem Viertel wird die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Gewinner- und Verliererfamilien immer sichtbarer. Für viele Kinder ist der Chor eine Nachmittagsbeschäftigung, wenn die Eltern bei der Arbeit sind und sie sich sonst selbst überlassen würden.
„Na hoffentlich wird da auch nur gesungen!“ Diesen Satz hören die Gemeindemitarbeiter:innen und auch die Autorin dieses Textes, deren Kind mitsingt, immer wieder. Was folgt, sind Erklärungen, Rechtfertigungen, gepaart mit Verständnis für diese Aussage. Denn: Die kleine Bemerkung zeigt exemplarisch, wie groß das Misstrauen gegenüber den christlichen Kirchen ist.
Die im Laufe der vergangenen Jahre aufgedeckten Taten sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen, begangen von Pfarrern und Kirchenmitarbeitern, schwingen in dem Satz mit. Vor allem aber das Schweigen, Vertuschen und Leugnen seitens der Führungsriege der Kirchen.
Weder die katholische noch die evangelische Kirche haben für völlige Aufklärung, geschweige denn für Konsequenzen für die Täter gesorgt. Trotz etlicher Treffen mit Betroffenen, trotz Kommissionen oder Studien, die in großem Umfang in Auftrag gegeben wurden. Hinzu kommen völlig verknöcherte Strukturen, insbesondere in der katholischen Kirche. Reformbemühungen für die Ordination von Frauen beispielsweise, für die bedingungslose Akzeptanz von queeren Menschen oder für die Abschaffung des christlichen Arbeitsrechts sind gescheitert.
Die Enttäuschung schlägt sich auch in Zahlen nieder. Laut aktuellem Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung hat jedes vierte Kirchenmitglied im vergangenen Jahr über einen Austritt aus der Kirche nachgedacht. Bei den Austrittswilligen sind Katholik:innen mit zwei Dritteln deutlich stärker vertreten. Wer Mitglied in einer christlichen Kirche ist, gehört derzeit und auch künftig zu einer Minderheit.
Werden die Kirchen nicht mehr gebraucht? Welche Funktion haben sie in einer sich zunehmend säkularisierenden Gesellschaft? Hinterlassen sie eine Leerstelle oder driften sie in die Irrelevanz ab?
Im Kleinen gedacht, würde es ohne den Einsatz der evangelischen Kiezgemeinde den Kinderchor nicht geben, denn eine kostenlose Alternative fehlt. Ziemlich sicher würde auch der ein oder andere Senior:innentreff in manchen Kleinstädten verschwinden oder das Freizeitangebot für Geflüchtete. Bei etlichen sozialen Projekten leisten die Kirchen, was andere Wohlfahrtsorganisationen oder private Initiativen nicht stemmen könnten.
Größer gedacht, haben die Kirchen die Funktion, den Raum für Diskurse zu öffnen. Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann sieht eine erschöpfte Gesellschaft, die durch Corona, Klima, Krieg aus dem Tritt geraten ist. Kann Kirche helfen, die „kollektiven posttraumatischen Belastungsstörungen“ zu heilen?
Es ist ihr Auftrag, im Dienste des Menschen zu stehen, und zwar in dem Sinne, dass die Würde des Menschen an erster Stelle rangiert. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen eine Krise die nächste jagt, die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine auf Jahre sichtbar sein werden – sei es durch Menschen, die Zuflucht vor der Gewalt Russlands suchen, oder durch gestiegene Preise für Energie oder Lebensmittel – und antidemokratische Strömungen fest entschlossen sind, mittelfristig salonfähig zu werden.
Die Kirchen können Räume dafür schaffen, die eigene Hilflosigkeit zu formulieren, etwa wenn es um das Für und Wider für Lieferungen schweren Kriegsgeräts an die Ukraine geht. Die Hoffnung auf baldige friedliche Verhandlungen hat sich längst zerschlagen. Politikentscheider:innen sind zu besonnenem Abwägen oft nicht mehr in der Lage. Der Eine-Welt-Kreis, die Gemeinde, selbst die Synode aber schon.
Und mutig konkret stellen sich kirchliche Initiativen – auch in den Ostbundesländern – an die Seite von Demonstrant:innen gegen Faschist:innen, Anti-Demokrat:innen und die AfD. Im Schutze der Kirchen als Institutionen können ihre Vertreter:innen ins Gespräch mit Menschen kommen, die leicht anfällig sind für gefährliche Propaganda und Desinformation.
Insbesondere im ländlichen Raum, wo der Pfarrer oder die Pfarrerin respektierte Instanz an der Kaffeetafel beim 70. Geburtstag ist, bei der Beerdigung des Dorfältesten – gerade dort, wo gerne über vermeintlich unsinnige Entscheidungen von „denen da oben“ geschimpft oder gegen Migrant:innen gehetzt wird.
Kirchliche Vertreter:innen an der Basis sind nicht zu unterschätzen. Aber sie können ihre Funktion nur erhalten, wenn sie in die Kooperation gehen mit denen, die mit Kirche eigentlich nichts am Hut haben. Zum Beispiel mit der queerfeministischen Initiative, für die das Recht auf selbstbestimmte Abtreibung gesetzt ist, mit Klimagerechtigkeits- oder Antifa-Gruppen, die hierarchische Strukturen ablehnen. Die Kirchen müssen politisch Haltung beziehen, im Sinne der Würde des Menschen.
Stattdessen stecken sie im Glaubwürdigkeitsdilemma. Die Führungsriege übt sich im Abwiegeln und lehnt es ab, sich dem „Zeitgeist“ anzupassen. Der Weltjugendtag in Lissabon stand unter dem Leitwort: „Maria stand auf und machte sich eilig auf den Weg“. Wenn dem Leitwort keine Taten Richtung Aufarbeitung und Toleranzinitiative folgen, rutschen die Kirchen weiter in die Bedeutungslosigkeit ab.
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