Zu wenig Barrierefreiheit in der Bahn: Samt Rollstuhl des Zuges verwiesen
Ein Rolli-Fahrer wird am Hamburger Hauptbahnhof aus dem Zug gezwungen. Begleitet von der Polizei. Der Grund: Er wollte nur eine Station weiterfahren.
Wenn Kay Macquarrie von seinem jüngsten Erlebnis am Hamburger Hauptbahnhof berichtet, möchte man es kaum glauben. Am Mittwoch wurde er gezwungen, einen ICE zu verlassen. Mit seinem Rollstuhl. Unter Begleitung der Bundespolizei. Eigentlich wollte er einfach nur eine Station später umsteigen, am Bahnhof Dammtor. Doch die Zugbegleiterin hatte andere Pläne, rief die Ordnungshüter, erteilte dem 47-Jährigen schließlich ein Hausverbot und zwang ihn somit auf den Bahnsteig.
So erzählt es Macquarrie der taz. Von dem Vorfall hatte er bereits auf dem Kurznachrichtendienst X (vormals Twitter) berichtet. Die Bundespolizei bestätigte, dass es einen entsprechenden Einsatz gab.
Eine Sprecherin der Bahn erklärte zu dem Vorfall: „Unsere Recherche hat ergeben, dass der Hublift des betreffenden ICE leider defekt war. Wir bedauern diesen Umstand sehr und bitten dafür um Entschuldigung.“
Allgemein hieß es von der Deutschen Bahn (DB), man arbeite kontinuierlich an dem Ziel, das Reisen mit der Bahn für alle möglich zu machen. Und: Im Hamburger Hauptbahnhof fänden sich umfangreiche Möglichkeiten zur „Realisierung kurzfristiger Umstiegshilfe. Da wir als DB die Belange aller Reisenden im Blick haben, bietet sich der Umstieg dort an, da er sich reibungslos realisieren lässt.“
Empfohlener externer Inhalt
Macquarries Erlebnis ist ein Beispiel für Barrieren und Behinderungen, die für RollstuhlfahrerInnen unterwegs leider zum Alltag gehören. Immer wieder hört man von eskalierenden Situationen, wenn Menschen bei der Mobilität mehr auf Hilfe angewiesen sind als andere – vor allem, wenn sie wie Macquarrie auf ihr Recht bestehen, selbstbestimmt zu reisen. Menschen mit Behinderung bemängeln schlecht informierte ZugbegleiterInnen, aggressive Mitreisende, anfällige Hublifte, defekte Aufzüge und unflexible Dienstzeiten des Mobilitätsservices.
Oft sind es Details, die den Unterschied machen. In Macquarries Fall dreht sich alles um Probleme mit dem eingebauten Hublift des neuesten Zugmodells ICE 4. Am Mittwoch will er von Köln nach Kiel und beginnt seine Reise gegen Mittag, wie er der taz erzählt. In Hannover muss er umsteigen. Knapp eine Stunde wartet er eigens, um den ICE 788 zu nehmen – einen Zug eben jenes ICE-Typs 4, der einen Hublift an Bord integriert hat. Er plane das extra so, sagt Macquarrie, damit er nicht wie bei anderen Zugmodellen auf MitarbeiterInnen des Mobilitätsservice angewiesen ist, die mit einem extra Hublift am Bahnsteig auf ihn warten müssen. Für das größere Maß an Selbstbestimmung nehme er auch eine längere Reisedauer in Kauf.
Schon in Hannover aber macht der integrierte Lift Probleme. RollstuhlfahrerInnen kennen das. Der Lift ist kompliziert zu bedienen und störungsanfällig. Die Zugbegleiterin habe darauf bestanden, für Macquarrie den Mobilitätsservice zu organisieren. Er solle am Hamburger Hauptbahnhof umsteigen und habe dem zunächst auch zugestimmt, erzählt er. Doch dann verspätet sich der Zug. Ein Umstieg am Bahnhof Dammtor wäre für ihn wesentlich komfortabler: Dort müsste er den Bahnsteig nicht wechseln, vermeidet anfällige Aufzüge und weite Strecken. Die Zugbegleiterin aber habe auf dem Ausstieg am Hauptbahnhof bestanden – und ruft kurzerhand die Bundespolizei.
Warum er nicht sofort gemacht hat, was die Zugbegleiterin wollte? „Das ist eine Frage der Selbstbestimmung. Ich habe ein gültiges Ticket, ich verhalte mich in keiner Weise so, dass ich eine Gefahr darstelle und man entscheidet über meinen Kopf hinweg“, sagt Macquarrie. Da mache er nicht mit.
Macquarrie ist ein erfahrener Reisender und beruflich viel unterwegs. Als Projektmanager in der Medienbranche hat er regelmäßig Termine in unterschiedlichen Städten in ganz Europa. London, Frankfurt, Lulea, Belgrad, Berlin, Riga. Über die Hindernisse, die ihm dabei mit seinem Rollstuhl begegnen, berichtet er online, schreibt Petitionen und setzt sich unter anderem für barrierefreie Bordtoiletten auf Flügen ein. Die Deutsche Bahn schätzt seine Expertise: Macquarrie vertritt den Sozialverband Deutschland in einem beratenden Gremium der Deutschen Bahn, das zur Verbesserung der Barrierefreiheit beitragen soll.
Wie er von A nach B kommt, weiß Macquarrie selbst am besten. Dass die Polizei ihn aus dem Zug begleiten muss, war für ihn indes neu. 20 Minuten habe die Diskussion wohl gedauert, sagt er, weil er nicht habe einsehen wollen, wieso er nicht eine Station weiter bis Dammtor fahren könne. Macquarries Rollstuhl ist nicht schwer und wird manuell bedient, mit Hilfe eines Mitreisenden, der sich auch am Mittwoch schon gefunden hatte, kann er die Stufen des ICE ganz ohne den integrierten Lift überwinden. Er hat das oft so gemacht, sagt er. Doch am Ende macht die Zugbegleiterin ihr Hausrecht geltend, der Bundespolizei bleibt kaum Spielraum.
Die eigens gerufene Verstärkung allerdings war nicht mehr nötig. Macquarrie gab schließlich nach und nutzte den externen Hublift am Hauptbahnhof. Nach einigem Hin- und Her am Infoschalter – und Beschimpfungen durch andere Zuggäste, die ihm die Verspätung anlasteten – erreichte Macquarrie schließlich gegen 20.30 Uhr per Regionalbahn sein Ziel in Kiel.
Der Bundespolizei macht er keinen Vorwurf: „Sie hatten keine Wahl und mussten das Hausrecht durchsetzen.“ Auch für die Zugbegleiterin zeigt er im Gespräch mit der taz Verständnis. Nicht sie persönlich wolle er kritisieren, sondern den allgemeinen Rückstand der Deutschen Bahn bei der Barrierefreiheit.
Ihn stört beispielsweise, dass RollifahrerInnen immer noch angehalten sind, ihre Reisen mindestens 24 Stunden vorher ankündigen zu müssen, sobald der externe Hublift ins Spiel kommt. Dass defekte Toiletten und Aufzüge die Reisen verhindern. Dass er nicht gemeinsam mit seinen KollegInnen reisen kann, weil Rolli-Plätze in der Bahn grundsätzlich nur in der 2. Klasse angesiedelt sind und die KollegInnen auf Geschäftsreisen die 1. Klasse nutzen. Oder, dass es die Bahn in Deutschland zu lange verschlafen hat, Züge ohne Stufen anzuschaffen – anders als es etwa in Spanien der Fall ist. Macquarries kann eine lange Liste aufzählen.
Frank Cordes überrascht die Schilderung Macquarries nicht. Er und seine Frau, Karin Cordes-Zabel, unternehmen das ganze Jahr über Bahnreisen durch Europa. In einem Podcast und den sozialen Medien berichten die beiden unter den Spitznamen „Frankyman“ und „Zauberbärin“ von Freud und Leid auf Rollstuhl-Reisen mit der Deutschen Bahn.
Empfohlener externer Inhalt
Auch Cordes kann aus dem Stand mehrere Situationen aufzählen, in denen ZugbegleiterInnen unnötigerweise die Polizei riefen. Er selbst habe eine solche Begegnung erst vor ein paar Wochen erlebt, als eine Zugbegleiterin den integrierten Lift nicht habe bedienen können – und dann die Bundespolizei rief, weil das Ehepaar sich nicht hatte abspeisen lassen. Offiziell angemeldet sei die Fahrt gewesen, so Cordes, und dennoch nicht zustande gekommen. „Es sind Situationen, in denen Rollstuhlfahrer schon vorsichtig sein müssen, wie sie sich verhalten“, sagt er. „Die Mitarbeiter stehen unter Druck und können auch schon mal aggressiv werden.“
Auch ohne Polizeieinsatz hakt es oft genug, wenn das Ehepaar Cordes unterwegs ist. Beispielsweise beim Mobilitätsservice: Die beiden wohnen in Bremerhaven, am nördlichen Ende der Bundesrepblik. Wenn sie mit der Bahn nach Hause wollen, kann es daher spät werden. Allerdings: Zu spät darf es nicht werden. Denn am Bremer Hauptbahnhof, wo das Ehepaar umsteigen muss, nehmen die Helferinnen für den Lift nach 23.30 Uhr keine Aufträge mehr an. Anders als Macquarrie hat Karin Cordes-Zabel einen E-Rolli, der zu schwer ist, um ihn mal per Hand irgendwo hochzuhieven. „Wir müssen teilweise stundenlang quer durch Deutschland fahren, weil ein Zug eine Minute nach Feierabend des Mobilitätsservice ankommt“, sagt Cordes.
Er hat dabei mittlerweile einen guten Draht zur Deutschen Bahn. Sie nehmen seine Beschwerden ernst, Cordes wird zu Gesprächen eingeladen, um Verbesserungsvorschläge zu machen. „Da geht dann schon mal schnell eine Anweisung an alle raus“, sagt Cordes.
Und im Fall von Macquarrie? Der kündigte eine Beschwerde an. Noch in diesem Jahr tage auch das bahneigene Gremium zur Barrierefreiheit. „Da werde ich den Vorfall aus Hamburg auf jeden Fall ansprechen“, sagt er Macquarrie.
Anmerkung der Redaktion: Wir haben den Text nachträglich um eine Stellungnahme der Deutschen Bahn ergänzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe